Ferda Ataman: Mehr Schutz von Minderheiten
16. August 2022Die Zahl der gemeldeten Fälle von Diskriminierung in Deutschland bleibt "auf hohem Niveau". Sie sei mit mehr als 5600 Beratungsanfragen an ihre Einrichtung "alarmierend", sagt Ferda Ataman, die neue Leiterin der Antidiskriminierungsstelle (ADS) des Bundes. "Sie zeigt aber auch, dass sich immer mehr Menschen nicht mit Diskriminierung abfinden und Hilfe suchen."
Die von Ataman geleitete Einrichtung bündelt im Sinne des 2006 vom Bundestag beschlossenen "Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes" (AGG), das als "Antidiskriminierungsgesetz" bekannt ist, die Arbeit zum Schutz vor Benachteiligung wegen Geschlecht oder Alter, körperlichen Beeinträchtigungen oder ethnischer Herkunft, Religion und Weltanschauung oder sexueller Identität. Ataman führte drei aktuelle Beispiele an: Ein Rollstuhlfahrer habe nicht in einem Linienbus mitfahren dürfen; eine junge Frau sei in einem Bewerbungsgespräch gefragt worden, ob sie schwanger werden wolle; ein lesbisches Paar habe eine Wohnung nicht mieten können, weil sie "nicht zum Wohnumfeld passen". Alltagserlebnisse.
Behinderung, Alter, Geschlecht
Der aktuelle Bericht der ADS bilanziert ihre Arbeit für 2021, schaut aber bei einem Teilaspekt auch auf die von Corona geprägten beiden vergangenen Jahre. Seit Beginn der Pandemie verzeichnete die unabhängige Anlaufstelle einen bemerkenswerten Anteil der Anfragen im Zusammenhang mit dem Virus. 2020 gab es 1904 von insgesamt 6383 Eingaben, also rund 30 Prozent, 2021 waren es 1022 von 5617, knapp 18 Prozent.
Am häufigstes Diskriminierungsmerkmal wurde für 2021 ein rassistischer Hintergrund genannt (37 Prozent). An zweiter Stelle mit 32 Prozent folgt das Merkmal Behinderung und chronische Krankheiten. Diskriminierungen wegen des Geschlechts machten 20 Prozent der Anfragen aus, solche wegen des Alters zehn Prozent. Neun Prozent bezogen sich auf den Merkmalsbereich Religion und Weltanschauung, vier Prozent auf die sexuelle Identität.
Zugleich war die Vorstellung des Jahresberichts 2021 der erste größere mediale Auftritt der neuen ADS-Leiterin Ataman. Bevor der Bundestag die 42-Jährige mit türkischen Wurzeln Anfang Juli ins Amt wählte – "mit Kanzlermehrheit", wie sie nun ausdrücklich erwähnte – hatte es wochenlang hitzige Debatten über die Nominierung der gebürtigen Stuttgarterin gegeben. Vor allem Unionspolitiker wandten sich vehement gegen ihre Wahl.
Denn Ataman, die zu einer selbstbewussten Generation junger Deutscher mit Migrationshintergrund gehört, scheut sich nicht davor, für ihre Meinung zu streiten und dabei auch mal zu polarisieren. 2020 verwendete sie in einer pointiert gehaltenen Glosse des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" die Bezeichnung "Kartoffel" für "ureinheimische" Deutsche - als Konter darauf, dass es für diverse Gruppen von Migranten sprachliche Zuordnungen gäbe. Das durchaus große Medieninteresse bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt in Berlin war gewiss ein Nachklang der damaligen Kontroversen.
Die Schärfe der Debatten warf letztlich ein Schlaglicht auf den gesetzlich geregelten Schutz vor Diskriminierung in Deutschland. Schon vor der rechtlichen Regelung des Gleichbehandlungsgesetzes von 2006 hatte es ein jahrelanges Tauziehen gegeben. Dabei ging es um die Umsetzung von vier europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien aus den Jahren 2000 bis 2004, zu der die EU-Länder verpflichtet sind. Nach Amtsantritt von Kanzlerin Merkel und Beginn der ersten von ihr geführten großen Koalition räumten Union und SPD das Thema dann bald ab und grenzten den Regelungsbereich sorgsam tendenziell eng ein.
Gleichbehandlung als Zündstoff
Seitdem sorgte die Frage von Benachteiligungen und Gleichbehandlung immer wieder für politischen Zündstoff. Die Vorgängerin von Ataman als Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes war bis 2018 Christine Lüders. Als sie ausschied, ließ die erneute große Koalition unter Merkel die Stelle unbesetzt. Und über knapp vier Jahr gab es lediglich eine kommissarische Leitung.
Nun also Ataman. Sie verweist darauf, dass die regierende Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und FDP in ihrem Koalitionsvertrag eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes AGG von 2006 angekündigt hätten. Diese Novellierung müsse "umfassend und zeitnah" erfolgen. Beim Schutz vor Diskriminierung gehe es nicht einfach nur um Perspektiven von Minderheiten, sondern "es geht um alle". Denn jeder könne zu einer benachteiligten Gruppe zählen oder plötzlich dazugehören.
Die Bundesregierung, betonte Ataman, solle Betroffenen bessere Möglichkeiten zur Durchsetzung ihrer Rechte an die Hand geben und sich dabei an internationalen Standards orientieren. Die derzeitige Rechtslage "legt Betroffenen Steine in den Weg, wenn sie ihre Rechte durchsetzen wollen", kritisierte die Beauftragte. So sollten die Fristen für Beschwerden von acht Wochen auf ein Jahr verlängert werden. Außerdem brauche es ein Verbandsklagerecht, um grundsätzliche Klärungen zu erleichtern. Ataman bemängelte zudem das unterschiedliche Angebot an Beratungsstellen. So gebe es im rot-rot-geführten Mecklenburg-Vorpommern keine einzige Beratungsstelle zum Thema Diskriminierungsschutz.
Wenn staatliches Handeln benachteiligt
Auf mehrfache Nachfragen machte sie deutlich, dass künftig der gesetzlich geregelte Schutz vor Benachteiligungen nicht nur für den privatwirtschaftlichen Bereich in Frage kommen solle, sondern auf staatliches Handeln ausgeweitet werden solle. Für Menschen in Deutschland, sagte Ataman, sei es "superschwer nachzuvollziehen, dass Menschen auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz AGG zurückgreifen können, wenn sie Diskriminierung in privaten Unternehmen erfahren, aber nicht bei staatlichem Handeln." Sie nannte Schulen, Polizei und Behörden als mögliche Orte von Benachteiligung. Und wo es keine entsprechenden Regelungen auf Landesebene gebe, müsse der Bund selbst aktiv werden.
Mit einer kurzen Bemerkung machte Ataman anschaulich, dass es jenseits der seit langem gepflegten Kontroversen beim Schutz vor Diskriminierung auch Herausforderungen gibt, die bei der Reform des AGG im Jahre 2006 noch überhaupt nicht absehbar waren. "Wie gehen wir mit Diskriminierung um, wenn kein Mensch, sondern ein Computer entscheidet?", fragte sie und nannte als Beispiel den automatisierten Umgang mit Bewerbungen um einen Beruf oder eine Wohnung. Dazu sei in der Antidiskriminierungsstelle ein Rechtsgutachten in Arbeit.