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Starke Filme aus Osteuropa

Simon Broll / Christian Roman14. April 2014

Sie rebellieren gegen Eltern, Religion oder korrupte Politiker. Auf dem Osteuropa-Filmfestival in Wiesbaden stehen junge Kämpfer im Mittelpunkt. Eine Doku über die Ukraine entwickelt sich derweil zum Publikumsmagnet.

Filmfestival goeast Wiesbaden 2014
Bild: goEast

Kurz nach Mitternacht bricht Dmytro Tiazhlov sein Versprechen: Er redet über Politik. Eigentlich wollte der Dokumentarfilmer aus der Ukraine nur nach Wiesbaden kommen, um auf dem Osteuropa-Festival goEast sein Werk "Ukraine_Stimmen" zu präsentieren. Doch nach der Vorstellung meldet sich eine Kinobesucherin: Wie er sich die Zukunft seines Landes ausmale, jetzt, nach dem Sturz von Viktor Janukowitsch? Ob nicht bald ein neuer korrupter Politiker an der Macht sei – und die Revolution verspielt?

Tiazhlov schweigt. Gebannt blicken alle auf die Bühne des goldverzierten Caligari-Filmpalastes, auf der sich der Regisseur niedergelassen hat. Plötzlich ruft er mit erregter Stimme ins Mikrofon: "Dann vertreiben wir auch diesen Politiker und dann den nächsten. Wie lange hat es denn in Deutschland gedauert, um Stabilität und Wohlstand zu schaffen? Unsere Revolution ist gerade einmal drei Monate alt. Doch schon jetzt sind positive Veränderungen sichtbar. Vor allem dank der einfachen Leute."

Ukraine_Stimmen auf dem Filmfestival GoEast

03:55

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Diese normalen Bürger stehen im Mittelpunkt von Tiazhlovs "Ukraine_Stimmen": einer Episodensammlung, die der Regisseur mit jungen Filmemachern aus seinem Land entwickelt hat. In acht Kurzfilmen fangen sie die Aufbruchstimmung an verschiedenen Orten der Ukraine ein – vom Öko-Priester im Süden, der Kämpferin auf dem Maidan bis hin zum Nomaden ohne Ausweis auf der Krim. Es ist ein Film, der sowohl EU-Gegner als auch Russlandkritiker zu Wort kommen lässt. Und damit perfekt auf das goEast-Festival passt.

Mit Kinofilmen Osteuropa verstehen

Seit 14 Jahren haben sich die Filmfestspiele in Wiesbaden dem Kino Osteuropas verschrieben. Allein in diesem Jahr werden 140 Filme aus 22 Ländern gezeigt. "Im Fernsehen sind Werke aus Bulgarien, Russland oder der Ukraine stark unterrepräsentiert", sagt Festivalleiterin Gaby Babic. Diese Lücke wolle man schließen – vor allem, weil das Kino helfen könne, Konflikte der Länder verständlich zu machen.

Impressionen Filmfestival GoEast

01:47

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"Verführung" aus Weißrussland ist dafür ein gutes Beispiel: In dem experimentellen Dokumentarfilm denkt der Journalist Viktar Dashuk über seinen Beruf nach. Bilder von verprügelten Reportern vermischen sich mit inszenierten Staatsempfängen, auf offizielle Nachrichtenbilder von Präsident Alexander Lukaschenko folgen Aufnahmen von satanischen Gesängen im Wald. Mit dieser assoziativen Bildcollage erschafft Dashuk eine zutiefst verstörende Lebenschronik in Zeiten der Diktatur und liefert Bilder aus einem Land, das im Wahrnehmungsfeld des Westens meist übersehen wird.

Russland und die Ukraine: Dialog statt Funkstille

Auf gleich mehreren Ebenen widmete sich das Festival in den ersten Tagen der Krim-Krise. Neben dem Film "Ukraine_Stimmen", der die meisten Besucher anlockte, hatten die Betreiber kurzfristig eine Gesprächsrunde einberufen, in der russische und ukrainische Filmschaffende zu Wort kamen. Ob Vertreter dieser beiden Länder an einem Tisch sitzen würden – darüber herrschten im Vorfeld der Veranstaltung Zweifel. "Die Situation zwischen unseren Ländern hat sich verschlechtert, viele Freundschaften sind zugrunde gegangen", sagte Alik Shpilyuk, Leiter des Internationalen Filmfestivals Odessa in der Ukraine.

Umso wichtiger war es für ihn, an der Diskussion teilzunehmen. Schließlich, so sagte auch der russische Produzent Andrei Silvestrov, könne das Kino Brücken schlagen und verlorenes Vertrauen zurückerobern. "Es ist unsere Pflicht, die Kamera in die Hand zu nehmen. In beiden Ländern. Wir müssen die Situation fixieren – ohne uns von Ideologien vereinnahmen zu lassen."

Retrospektive Malgorzata Szumowska

Die Realität mithilfe der Kamera einfangen, das ist auch der Verdienst der polnischen Regisseurin Malgorzata Szumowska. In ihren Spielfilmen hält sie oft Alltagsszenen der unteren Bevölkerungsschicht fest, holt bevorzugt Laien vor die Kamera. Für das Drama "Leben in mir" über eine ungewollt Schwangere, die ihrem ungeboren Kind die Welt erklärt, erhielt sie 2005 in Wiesbaden den Regiepreis. Jetzt widmet das goEast-Festival der 41-Jährigen eine Retrospektive.

Hat ihre erste Retrospektive: die polnische Regisseurin Malgorzata SzumowskaBild: Karolina Sobel

"So eine Ehre ist mir in Polen noch nicht zuteil geworden", sagt Szumowska im Gespräch mit der Deutschen Welle. Gleichzeitig lobt sie die Ausrichtung des Festivals. "Das osteuropäische Kino ist gerade enorm in Bewegung und allein deshalb muss man sich mehr mit ihm befassen." Länder wie Rumänien hätten zwar bereits einen festen Platz in den großen Festivals wie Cannes oder Berlin ergattert, doch Osteuropa sei vielfältiger: "Und damit auch die Geschichten, die erzählt werden können."

Coming-of-Age-Geschichten in jungen Demokratien

Auffällig häufig stellen die Spielfilme in Wiesbaden Jugendliche in den Mittelpunkt. Im polnischen Schwarzweißfilm "Ida" von Pawel Pawlikowski erfährt eine Novizin, dass sie eigentlich Jüdin ist, deren Eltern während der Nazizeit ermordet wurden. Gemeinsam mit ihrer resoluten Tante macht sie sich auf die Suche nach der Ruhestätte der Familie, quer durch das sozialistische Polen der 1960er Jahre.

Im Drama "Verführe mich" von Marko Santic aus Slowenien kämpft der Teenager Luka um Selbständigkeit: raus aus dem Jugendheim, hinein in die eigene Wohnung. Seiner Arbeit in einem Schlachthof geht er freudlos nach, mit der apathischen Mutter will er so wenig wie möglich zu tun haben. "Du hättest mich abtreiben sollen", sagt er ihr bei einer Dorffeier ins Gesicht. "Für mich warst du nutzlos." Doch in dieser Rebellion ist auch Platz für Neues: die Verheißung auf ein Leben in Freiheit – und die erste große Liebe.

Ein Road-Movie durch das sozialistische Polen: "Ida" von Pawel PawlikowskiBild: goEast

Filmhelden wie Ida und Luka stellen dabei würdige Vertreter ihrer Heimat dar: so wie viele Länder der ehemaligen Sowjetunion versuchen sie sich von alten Zwängen zu trennen und auf eigenen Beinen zu stehen. Gerade das macht auch in Dmytro Tiazhlovs Augen die Stärke des Osteuropa-Kinos aus. "Wir sind noch recht junge Staaten", sagte der Dokumentarfilmer. "Es hat einige Zeit gedauert, bis wir uns trauten, veraltete Muster zu hinterfragen." Jetzt sei die Abnabelungsphase vorbei. Das Leben könne beginnen.

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