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Jüdisches Leben in Deutschland feiern

28. Dezember 2021

Im Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" gab es bundesweit rund 2200 Projekte. Bis Sommer gibt es eine Verlängerung. Zeit für eine Zwischenbilanz.

Eine Flagge im Wind. Darauf steht: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.
1700 Flaggen wurden bundesweit gegen Antisemitismus gehisstBild: Thomas Banneyer/dpa/picture alliance

DW: Herr Kovacs, das Festjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" geht zu Ende - wenngleich die Feierlichkeiten coronabedingt noch bis zum Sommer 2022 weiterlaufen. Es war ein turbulentes Jahr: Nahostkonflikt, Übergriffe auf Synagogen, zunehmender Antisemitismus, Corona. Konnten Sie trotzdem feiern?

Andrei Kovacs: Seitdem wir mit den Planungen für das Festjahr im Sommer 2019 begonnen haben, haben wir tatsächlich zahlreiche Herausforderungen erlebt. Wir haben das Festjahr bewusst so als Festjahr benannt. Denn wir wollten feiern, dass es trotz der brutalen Anschläge, trotz des heute wieder erstarkenden Antisemitismus, aber auch trotz der wechselhaften Geschichte und der Shoa - dass trotzdem heute wieder jüdisches Leben in Deutschland existiert. Diese Resilienz soll gemeinsam mit vielen Projektpartnern gefeiert werden. Es beteiligen sich rund 1000 geförderte und nicht geförderte Projektpartner bundesweit am Festjahr. Über 2200 Veranstaltungen sind in unserem Kalender bis heute aufgeführt. Und wir feiern mit vielen Menschen und Institutionen gemeinsam. Wir beobachten, dass sich neue Netzwerke, neue Allianzen bilden. Das zeigen zum Beispiel die über 40 unabhängigen Themenseiten zu 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, die wir auch auf unserer Webseite aufgeführt haben. Sie zeigen, dass sich Bundesländer, Medienanstalten und Institutionen auch mit eigenen Formaten an dem Festjahr beteiligen. Es haben sich 30 Städte aus 13 Bundesländern beteiligt, darunter waren auch 23 jüdische Gemeinden. Also ich empfinde das als einen Erfolg, denn wir konnten feiern, trotz der vielen Hürden, die uns die Realität gestellt hat.

Jung, jüdisch, deutsch

26:01

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Welche Höhepunkte gab es für Sie persönlich?

Die Ausstellung "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland"Bild: Stefan Arendt/LVR-ZMB

Neben vielen Leuchtturmveranstaltungen war für mich einer der Höhepunkte, als mir die Vorsitzende einer jüdischen Gemeinde erzählte, dass ihre Gemeinde das erste Mal seit 76 Jahren den Mut gefasst hat, jüdisches Leben im öffentlichen Raum darzustellen. Und zwar gemeinsam mit neuen, nicht jüdischen Partnern. Das war ein erster kleiner Schritt. Ich denke, das muss noch nachhaltig verankert werden. Was mich auch fasziniert, ist das Interesse der ausländischen Presse und auch der Menschen aus anderen Ländern an dem Festjahr, in Europa und weltweit. Auch das Auswärtige Amt hat sich beteiligt. Über 20 Veranstaltungen fanden in internationalen Auslandsvertretungen der Bundesrepublik weltweit im Rahmen des Festivals statt. Das war für mich überwältigend und zeigt, wie wichtig diese Arbeit ist - nicht nur für uns, um die jüdische Gemeinschaft hier in Deutschland zu stärken und ihr eine Zukunft zu geben, sondern auch mit Blick ins Ausland. Viele Nachfahren aus jüdischen Familien, die der Shoa zum Opfer fielen und überall in der Welt leben, wollen erfahren: Wie geht eigentlich Deutschland heute mit jüdischem Leben um? In einem Land, in dem erst vor 76 Jahren das brutalste Verbrechen der Menschheitsgeschichte erfunden wurde.

Feste wie das jüdische Laubhüttenfest, das Sukkotfest, wurden in einem XXL-Format gefeiert. Zum ersten Mal durften auch Nicht-Juden daran teilnehmen. Wie wurde diese Einladung aufgenommen?

Zu Sukkot sollen immer auch Gäste in die Laubhütte eingeladen werden. Leider müssen jüdische Feste aus Sicherheitsgründen zumeist unter Polizeischutz stattfinden und es ist schwer, wenn externe Gäste mit dazukommen möchten.

Das hängt sicher auch damit zusammen, dass diese Feiern traditionell im privaten Rahmen stattfinden ...

Das ist richtig. Eines der schönen Ergebnisse war es, zu sehen, dass viele junge, vor allem junge jüdische Menschen, für die es selbstverständlich ist, zu einer modernen Gesellschaft dazuzugehören, dies auch selbstbewusst zeigen konnten. Und dazu gehört auch, dass man nach außen hin selbstbewusst auftritt. Viele jüdische Gemeinden waren bereit, die Netzwerke wieder neu zu spannen, und haben mit nichtjüdischen Institutionen und Städten kooperiert. Es hat hoffentlich gezeigt, dass solche Formate eine Zukunft haben und wir viele dazu motivieren können, eben auch im größeren Rahmen gemeinsam zu feiern. Um ein Verständnis zu entwickeln, sich kennenzulernen, für eine gemeinsame Zukunft. Die Hoffnung ist, hier einen gewissen empathischen Zugang zum jüdischen Leben zu ermöglichen. Eben nicht nur theoretisch, sondern sich tatsächlich zu begegnen, gemeinsam schöne Momente zu erleben, Brücken zu bauen - für Empathie und Respekt.

Konnten Sie Schulen einbeziehen, in denen meist der Holocaust der einzige Berührungspunkt zum Thema ist?

Eine Sukka (Laubhütte)Bild: Rottenburg a. Neckar, Stadtarchiv und Museen

Wir haben erste Ansätze, Schulen einzubinden, auch durch eine Kooperation mit den UNESCO-Projektschulen, Kulturveranstaltungen im Bildungsbereich, die unter dem Dach des Vereins regelmäßig stattfinden, in denen auch Schulen eingebunden werden. Hier reden wir immer auch über die Vermittlung jüdischen Lebens heute. Wir haben dankenswerterweise zwei 50-Prozent-Lehrkräfte vom Land Nordrhein-Westfalen zur Verfügung gestellt bekommen, die sich im Namen des Vereins mit dem Thema beschäftigen. Natürlich versuchen wir, etwas zu bewegen. Aber wir wissen, dass es nicht einfach ist. Jedes Bundesland und die Schulen bestimmen selbst, was in Schulplänen vertieft behandelt wird. Aber wir haben erste gute Ansätze. Wir haben zum Beispiel mit Partnern einen 3D-Film produziert, der vor einigen Wochen veröffentlicht wurde, in dem wir versuchen, 1700 Jahre jüdisches Leben für junge Menschen, für Schüler zugänglich zu machen. Die Idee dahinter war, moderne Formate für die Verwendung im Unterricht zu entwickeln und anzubieten. Der Film ist kurz und prägnant. In dem Film wird eben nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gegenwart jüdischen Lebens heute in Deutschland aufgegriffen.

Sie wollten das Festjahr möglichst offen feiern. Ist Ihnen das gelungen oder mussten Sie die Veranstaltungen mit viel Polizeipräsenz schützen?

Die Realität ist leider, dass aus Sicherheitsgründen eine Veranstaltung zu jüdischem Leben nicht ohne Polizeischutz stattfinden kann. Auch das ist Teil jüdischen Lebens in Deutschland. Trotzdem kommen viele Gäste zu den Veranstaltungen. Das Jahr wurde coronabedingt bis Juli 2022 verlängert. Wir hoffen natürlich, dass es dabei bleibt und wir auch weiterhin nicht durch Zwischenfälle belästigt oder sogar bedroht werden.

Gerade erst wurde der eigentliche Anlass des Jubiläumsjahres begangen: Am 11. Dezember 321 hat Kaiser Konstantin ein Dekret erlassen, das Juden erlaubte, Teil des Stadtrats zu sein. Mit bundesweit 1700 gehissten Flaggen hat der Jubiläumsverein 1700 Jahre jüdisches Leben an dieses historische Dokument erinnert. Wer hat sich an der Aktion "Flagge zeigen" beteiligt?

Wir wollten gemeinsam Flagge zeigen gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben, im öffentlichen Raum, ohne sich zu verstecken, für alle sichtbar. Es reicht nicht aus, in abgeschlossenen Räumen über Antisemitismus zu sprechen. Jeder Mensch muss überall aufstehen, wenn er antisemitische Vorurteile, rassistische Vorurteile zur Kenntnis nimmt. Mit der Aktion haben wir gemeinsam mit vielen Menschen und Institutionen über 1700 Flaggen im ganzen Land gehisst, gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben. Wir sind dankbar für eine breite Beteiligung und haben wunderbare Bilder von stolzen Menschen, die sich zeigen und gemeinsam gegen Antisemitismus einstehen.

Ist es Ihnen manchmal mulmig zumute, wenn Sie sehen, wie unverhohlen antisemitisch die AfD in Deutschland auftritt?

Andrei Kovacs ist der Vorsitzende des Vereins "JILD Verein 321–2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V."Bild: Verein 321

Ja, natürlich beobachte ich das persönlich mit Sorge. Aber Antisemitismus beschränkt sich nicht nur auf eine Partei. Antisemitisches Gedankengut steckt laut empirischen Studien im Kopf von jedem vierten Deutschen.

Wir versuchen, dem entgegenzuwirken. Deutsche Juden sind eine postmigrantische Gruppe. Wahrscheinlich haben über 95 Prozent der jüdischen Menschen in Deutschland selber oder über die Eltern und Großeltern einen migrantischen Hintergrund. Das deutsche Judentum vor der Shoa ist heute nicht mehr existent. Nur wer für eine plurale Gesellschaft steht, kann für jüdisches Leben in Deutschland kämpfen.

2200 Veranstaltungen fanden im Festjahr statt. Das klingt nach einer Erfolgsstory. Was muss denn jetzt getan werden, damit es eine Erfolgsstory bleibt?

Also zum einen haben wir die zukunftsorientierte Erinnerungskultur, die brauchen wir auch weiterhin. Das ist keine Frage. Es ist wichtig für alle, aus der Vergangenheit zu lernen und sicherzustellen, dass eine solche Menschheitskatastrophe nie wieder passiert. Hier braucht es aber einen Paradigmenwechsel in der Erinnerungs- und Gedenkkultur. Denn die Generation, die aus erster Hand über die Menschheitsverbrechen berichten kann, existiert bald nicht mehr. Die Shoa wird zu einem Teil der Geschichte. Wir müssen aufpassen, dass wir hier nicht vergessen und uns distanzieren. Deshalb ist eine zukunftsorientierte Erinnerungs- und Gedenkkultur sehr wichtig. Auf der anderen Seite ist es wichtig, dass man weiterhin auch ein realistisches Bild der in Deutschland lebenden Juden vermittelt. Natürlich frei von Vorurteilen und stereotypen Denken, aber auch frei von verklärten romantischen Vorstellungen, die man sehr oft von jüdischem Leben hat. Nur so kann meiner Meinung nach ein unverkrampftes Miteinander möglich werden. Ich hoffe, wir konnten mit dem Festjahr etwas dazu beitragen. Meine Kinder wollen nicht nur mit Holocaust und nicht nur mit Geschichte in Verbindung gebracht werden, sondern sie leben im Jetzt, im Heute und wollen sich mit einer eigenen Zukunft in Deutschland beschäftigen.

Der Musiker und Unternehmer Andrei Kovacs stammt aus einer jüdisch-ungarischen Familie. Seine Großeltern überlebten das Budapester Ghetto und das Konzentrationslager Bergen-Belsen. Der 46-Jährige ist leitender Geschäftsführer des Vereins "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". 

Das Gespräch führte Sabine Oelze.

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