Festung Europa - Vorposten Lampedusa
26. März 2009Fluchtpunkt Lampedusa: mit diesem Schlauchboot sind am 14. März mehr als 60 Menschen auf der winzigen italienischen Insel angelandet. Sie waren zwei Tage unterwegs und hatten in Libyen abgelegt. Die Menschen erreichten Lampedusa mit letzter Kraft ohne fremde Hilfe. Fast alle Bootsflüchtlinge der Gruppe sind ursprünglich aus Westafrika, vor allem aus Nigeria und aus der Elfenbeinküste.
Bibel und Koran haben die Flüchtlinge und Migranten auf ihrer Reise ins Ungewisse begleitet. Viele sind bis zu zwei Jahre unterwegs. Die Bootsfahrt über das Mittelmeer ist nur der letzte Teil ihrer Qual. Die meisten Bootsflüchtlinge, die Lampedusa erreichen, kommen aus Eritrea, Äthiopien, Somalia, Nigeria, Tunesien, Ägypten und Marokko. Sie müssen die Sahara überleben, bevor sie irgendwo vor der Küste Libyens in ein Boot steigen können.
Die entkräfteten Bootsflüchtlinge kommen mit nichts außer ihren großen Träumen von Europa auf Lampedusa an. Sie haben auf der anderen Seite des Mittelmeeres pro Person zwischen 1500 und 3000 Dollar an professionelle Schlepper gezahlt. Auch darum dauert die Flucht so lange. Die Flüchtlinge müssen immer wieder anhalten und das Geld für den nächsten Fluchtabschnitt verdienen. Manchmal werden sie unterwegs ausgeraubt und verhaftet. Libyen ist bekannt dafür, dass es Migranten zurück in die Wüste deportiert.
Die Schlepper in Libyen und Tunesien pferchen die Menschen in hochsee-untaugliche Schlauchboote oder marode Holzkähne. Nur die allerwenigsten schaffen es ohne fremde Hilfe bis nach Lampedusa. Die meisten Bootsflüchtlinge geraten bei der Überfahrt in Seenot und müssen aus Lebensgefahr gerettet werden. Experten schätzen, dass auf jeden Bootsflüchtling, der Lampedusa erreicht, drei kommen, die entweder die Wüste oder das Meer nicht überleben.
Die, die es schaffen, sollen möglichst schnell aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Auf Lampedusa werden Neuakömmlinge nach der Gesetzesverschärfung in Rom derzeit in zwei Gruppen eingeteilt.
Schwarzafrikaner gelten als wahrscheinliche Asylbewerber oder humanitäre Flüchtlinge. Nur sie dürfen die Insel verlassen und werden mit der täglichen Fähre oder per Flugzeug Richtung Sizilien oder auf das italienische Festland weitertransportiert.
Hellhäutige Nordafrikaner aus den Maghreb-Staaten gelten als potenzielle illegale Einwanderer. Sie dürfen die Insel nicht verlassen und werden im zentralen Lager zur Erstaufnahme festgehalten, das seit der Jahreswende zusätzlich als Abschiebelager dient. Journalisten ist der Zutritt zum so genannten "Zentrum zur Identifikation und Abschiebung" verboten. Gespräche mit den Migranten werden von den Behörden verhindert.
Militärische Sperrzone, Zutritt verboten: solche Schilder begegnen Journalisten auf Lampedusa immer wieder. Die eingesperrten Bootsflüchtlinge sind im Inselalltag praktisch unsichtbar. Wie es ihnen geht, können weder einheimische Lampedusani noch angereiste Journalisten überprüfen. Auch alle Anfragen der Deutschen Welle sind im März abgelehnt worden. Nach Angaben der vier Hilfsorganisationen, die im "Zentrum zur Identifikation und Abschiebung" tätig sind, leben dort aber viel zu viele Menschen auf viel zu engem Raum. Die hygienischen Zustände seien schlecht und das Aggressionspotenzial der Insassen groß.
Auch die Mole am neuen Hafen, wo die meisten der Bootsflüchtlinge ankommen, bleibt den Medien oft verschlossen. Ohne offizielle Autorisierung läuft gar nichts. Bild-Journalisten auf kurzer Stippvisite versuchen die Distanz mit riesigen Objektiven zu überwinden. Lampedusas "Alternative Jugend" hat deshalb am meist verschlossenen Hafentor ein sarkastisches Plakat aufgehängt: "Ein Lächeln für die Presse".
Seit Rom entschieden hat, dass der Fluchtpunkt Lampedusa auch ein Abschiebezentrum werden soll, laufen im westlichsten Inselteil die Bauarbeiten für ein Container-Lager auf Hochtouren. Früher blieben alle Bootsflüchtlinge nur für wenige Tage für die schnelle erste Hilfe auf der Insel. Jetzt können sie dort bis zu einem halben Jahr festgehalten werden, Abschiebung inklusive. Das Container-Lager wird später von Stacheldraht eingezäunt sein und von Sicherheitskräften bewacht werden.
Wie viele Menschen das neue Abschiebezentrum einmal beherbergen soll, wenn es im Sommer fertig wird, ist offiziell noch nicht bekannt. Aber schon jetzt ist sichtbar, dass die Container auf felsigem Untergrund im Nichts stehen. Weit und breit gibt es keinen Baum und keinen Strauch, der Schatten spenden wird. Lampedusa liegt zwischen Tunesien und Sizilien. Im Sommer ist das Klima nordafrikanisch heiß. Früher war das Gelände ("Loran-Base") eine militärische Radar-Station.
Lampedusas Bürgermeister Bernardino De Rubeis ist in der Zwickmühle. Er begrüßt die verschärfte Einwanderungs- und Abschiebepolitik der italienischen Regierung durchaus - solange sie nicht auf seiner kleinen Insel stattfindet. Er befürchtet den endgültigen Kollaps der Insel-Ökonomie.
Lampedusa und seine rund 6000 Einwohner leben fast ausschließlich vom Tourismus, seit die lokale Fischindustrie zusammengebrochen ist.
Der großindustrielle Fischfang im Mittelmeer hat den Fischern auf Lampedusa genauso wenig eine Chance gelassen wie auf der anderen Seite den lokalen Fischern an der afrikanischen Küste.
Angespülte Schwimmwesten im Fischereihafen: Lampedusa taucht derzeit nur noch im Zusammenhang mit Flüchtlingen, illegaler Einwanderung und Abschiebung in den Medien auf. Die negativen Schlagzeilen halten die Touristen fern. Die gewohnten Buchungen zu Ostern sind ausgeblieben. Das verärgert die Insulaner und schürt die Vorurteile gegen die Bootsflüchtlinge. Sie sind neben der Regierung im fernen Rom der Sündenbock.
In den vergangenen Jahren sind so viele Bootsflüchtlinge auf Lampedusa angekommen, dass es auf der Insel inzwischen einen Schiffsfriedhof für ihre maroden Kähne gibt.
Die Bugspitzen auf dem Friedhof der maroden Kähne sind auch eine Mahnung an die Europäische Union, das Tor nach Europa nicht zu verschließen.
Dagwami Yimer hat Lampedusa im Sommer 2006 erreicht. Er war fast ein dreiviertel Jahr auf der Flucht. Der junge Äthiopier lebt inzwischen als anerkannter Flüchtling in Rom und dreht Dokumentarfilme über andere Migranten aus Afrika. Im März 2009 besucht Dagwami Yimer zum ersten mal wieder sein "Tor nach Europa" und verbringt auch etwas Zeit auf dem Friedhof der Schiffe. Der Besuch auf Lampedusa bringt schmerzhafte Erinnerungen zurück. Für Dagwami Yimer aus Äthiopien gibt es keine illegalen Einwanderer. Jeder, der die Wüste und das Meer wähle, riskiere sein Leben. Das mache niemand leichtfertig.
Auch im Wortschatz von Inselpfarrer Vincent Mwagala existiert das Wort illegaler Einwanderer nicht. Der Priester stammt aus Tansania und lebt seit zwei Jahren auf Lampedusa. Er sieht die politische Elite Afrikas in der Verantwortung, die den Exodus der afrikanischen Jugend durch "unverantwortliche Politik" maßgeblich befördere. Aber er sieht auch Europa in der Verantwortung, das den afrikanischen Kontinent ausgeplündert und mit willkürlichen Grenzen überzogen habe. Wenn Europa jetzt wenigstens aufhören würde, die politischen Konflikte in Afrika mit Waffen und Finanzspritzen weiter anzuheizen, dann wäre das der erste Schritt zur Lösung, sagt Pfarrer Vincent Mwagala aus Tansania.
Viele Mitglieder von Pater Vincents Gemeinde können eine diffuse Angst vor dem Unbekannten nicht verbergen. Diese Frauen stehen nach der Morgenmesse auf dem Kirchplatz zusammen. Alle wollen den Bootsflüchtlingen helfen. Alle wollen, dass sie gut versorgt sind und dass ihre Rechte geachtet werden. Aber viele Frauen äußern auch Angst vor Überfremdung und eingeschleppter Kriminalität. Es fallen Worte wie Drogenhandel und Zwangsprostitution.
Auf Lampedusa haben sich inzwischen auch lokale Menschenrechts-Aktivisten zusammengeschlossen, die eine Petition gegen das Abschiebezentrum vorbereiten. Die Petition soll noch im April nach Rom und nach Brüssel geschickt werden. Sie soll die Menschenrechte der Bootsflüchtlinge einklagen und ein Mitspracherecht für die Inselbewohner einfordern.
Der Protest der Lampedusani gegen das Abschiebezentrum spaltet sich in zwei Lager. Die einen kämpfen für das Geld, weil sie den Zusammenbruch des Tourismusgeschäfts befürchten. Die anderen kämpfen für das Leben, weil sie die Menschenrechte der Bootsflüchtlinge verletzt sehen. Auf Lampedusa gibt es zum Beispiel weder ein Gericht noch Rechtsanwälte, die ein Asylverfahren zeitnah und vor Ort leisten könnten. Aber zusammen haben die Inselbewohner dem Bildhauer Mimmo Paladino gestattet, auf Lampedusa das "Tor nach Europa" zu errichten. Die Skulptur ist all denen gewidmet, die ihre Flucht in die Festung Europa nicht überlebt haben.