Fiktion und Wahrheit - Der Buchenwald-Roman "Nackt unter Wölfen"
15. Juli 2012 August 1944 - im Konzentrationslager Buchenwald trifft ein neuer Gefangenentransport ein, rund 2000 Menschen marschieren durch das Tor mit der Aufschrift "Jedem das Seine" ins Innere des Geländes. Unter ihnen ist der erst dreijährige Junge Stefan Jerzy Zweig. Er geht neben seinem Vater, einem jüdischen Rechtsanwalt aus Krakau. Das ist etwas Unerhörtes in Buchenwald, wo Menschen schwerste Zwangsarbeit verrichten müssen und das Mindestalter dafür bei 16 Jahren liegt.
Kinder werden von der SS als nutzlose Esser betrachtet und dem Tod preisgegeben. Jerzy wird von seinem Vater getrennt und in das "Kleine Lager" gebracht. Häftlinge betreuen und umsorgen ihn, gelegentlich kann sein Vater zu Besuch kommen. Das Kind ist damit aber keineswegs gerettet, im Gegenteil: Schon wenig später soll es nach Auschwitz in den sicheren Tod deportiert werden. Doch ein kommunistischer Häftling in der Schreibstube streicht den Namen von der Transportliste und setzt einen anderen dafür ein. Anstelle des Kleinkindes fährt nun ein 16-jähriger Sinto-Junge in den Tod. Viele Jahre später wird dieser in der DDR verschwiegene Vorgang von Historikern als "Opfertausch" bezeichnet werden und sogar Anlass sein für Streitigkeiten vor Gericht. Als Buchenwald am 11. April 1945 befreit wird, sind Vater und Sohn unter den Überlebenden. Soweit die Tatsachen.
Eine Legende entsteht
Aus der realen Vorlage wurde in dem Roman "Nackt unter Wölfen" ein Mythos. Das Mitte der 1950er Jahre in geschriebene Buch erzählt, wie das Kind in einem Koffer mit seinem Vater im Lager ankommt. In einer aufopferungsvollen Hilfsaktion gelingt es den kommunistischen Häftlingen des illegalen Lagerkomitees, den Dreijährigen zu verstecken. Ein gefährliches Vorhaben in einer Zeit, da die Widerstandskämpfer aus verschiedenen Nationen bereits Waffen sammeln, um das Lager befreien zu können. Das Kind aber gefährdet diese illegalen Aktivitäten. Was ist also wichtiger? Die konspirative Arbeit für die vielen - oder das Mitleid mit dem hilflosen Dreijährigen? Im Roman von Bruno Apitz siegen Herz und Mut über Vernunft und Parteidisziplin. Kinderrettung und heldenhafte Selbstbefreiung des KZ Buchenwald bilden das "Happy End" dieses Buches – das zum Klassiker in der DDR werden sollte.
Bestseller und Propagandaschrift
Die Neuauflage 2012 beleuchtet nun in einem ausführlichen Nachwort und mit zusätzlichen Dokumenten die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Romans. Erschienen ist "Nackt unter Wölfen“ 1958 in einer Auflage von 10.000 Stück – es war sofort vergriffen, mehrere Neuauflagen wurden gedruckt. Mit fast zwei Millionen Exemplaren wurde der Roman zum meist verkauften Buch in der DDR. Es gehörte zum Literaturkanon für den Deutschunterricht und auch die Verfilmung von 1962 war ein Riesenerfolg. Übersetzungen in 30 Sprachen folgten, die Weltauflage schätzt man auf drei Millionen.
Geschrieben hat den Bestseller ein Mann, der selbst jahrelang Buchenwald-Häftling gewesen ist. Bruno Apitz war als Kommunist verfolgt und inhaftiert worden. Er hatte Glück im Unglück und überlebte das Lager dank seiner künstlerischen Fähigkeiten: Der Autodidakt fertigte Schnitzereien und Holzskulpturen für die SS an, zeichnete Karikaturen, schrieb Gedichte und Texte für "bunte Abende", trat als Conferencier auf. Nach der Befreiung am 11. April 1945 kehrte er in seine Heimatstadt Leipzig zurück. Er wurde Mitglied der SED, Zeitungskorrespondent, Autor von Hörspielen und Stücken für Laientheater.
Machtpolitik und Moral
"Nackt unter Wölfen“ entstand unter schwierigen Rahmenbedingungen in einer Situation parteiinterner Machtkämpfe zwischen denjenigen Funktionären, die den Krieg im Moskauer Exil überlebt hatten, und denen, die Verfolgung, Zuchthaus und KZ in Hitlers Reich erleiden mussten. Ehemaligen Häftlingen, die im Lager Funktionen übernommen hatten, legte man Kollaboration, später sogar Kriegsverbrechen zur Last. Führungsfiguren unter den überlebenden Buchenwalder Kommunisten wurden gedemütigt und diskreditiert, einige hat man schließlich sogar verhaftet und in den sowjetischen Gulag deportiert.
Die Fiktion von dem durch Kommunisten geretteten Kleinkind wurde indes zum Mythos, der die Erinnerungskultur der DDR jahrzehntelang geprägt hat. Man tat so, als sei das Buch ein Tatsachenbericht, ein Dokument der realen Geschichte Buchenwalds. "Eine riesige Propagandakampagne und der gelungenste Mediencoup der DDR", sagt dazu Professor Volkhard Knigge, der heutige Gedenkstättenleiter und betont, das Buch müsse als Roman der Entstehungszeit gelesen werden: "Der Roman ist ein Roman. Das Problem ist, was die DDR daraus gemacht hat." Sie pflegte das Bild der heroischen, unbeugsamen, ihrer Partei verpflichteten kommunistischen Häftlinge. Zweifel, Zwiespältigkeit und Angst, Fragen nach dem Preis des Überlebens und der Verstrickung von so genannten Funktionshäftlingen in das Terrorsystem der SS blieben ausgeblendet. Der Heldenmythos blieb – und die Geschichte vom "Buchenwaldkind“ spielte noch jahrelang eine wichtige Rolle.
Das Buchenwaldkind
Zurück zur Realität: Vater und Sohn Zweig wandern nach dem Krieg über Polen und Frankreich nach Israel aus. 1964 werden sie von Reportern einer Ostberliner Zeitung ausfindig gemacht. Nach mehreren Besuchen übersiedelt der junge Mann sogar in die DDR – er wird dort hofiert und herumgereicht, eine lebende Ikone, eine lebendig gewordene Romanfigur, Symbol für die Leistungen des kommunistischen Widerstands. An der "Nationalen Mahn- und Gedenkstätte“ Buchenwald erinnert eine Tafel an die Rettung des Kindes. Zu Hause fühlt sich Zweig in der DDR freilich nie, er verlässt das Land 1972 und lebt seither in Österreich. Doch die Geschichte kommt erst 2012 zu einem vorläufigen Ende.
Streit um die historische Wahrheit
Ein Gerichtsprozess in Berlin macht Schlagzeilen. Die streitenden Parteien sind Stefan Jerzy Zweig einerseits und Volkhard Knigge, Leiter der Gedenkstätte Buchenwald seit 1994, andererseits. Seit Jahren schwelt zwischen ihnen eine juristische und offenkundig auch persönlich gefärbte Auseinandersetzung. Knigge hatte bei der Umgestaltung der Gedenkstätte die alten, pathetischen Erinnerungstafeln aus der DDR-Zeit abhängen lassen, darunter auch die Tafel zur Erinnerung an das "Buchenwaldkind“. Stattdessen wird nun kollektiv der rund 900 geretteten Kinder und Jugendlichen gedacht.
Zweig fühlt sich tief getroffen. Auch die Entdeckung, dass er überlebte, weil ein anderer Junge in den Tod deportiert wurde, belastet den traumatisierten Mann. Er wehrt sich gegen den aus seiner Sicht diskriminierenden Begriff "Opfertausch“. Zusammen kommen Zweig und Knigge nicht, zwischen ihnen liegt die Geschichte wie eine unüberwindliche Hürde. Man einigt sich schließlich darauf, dass Historiker Knigge das Wort öffentlich nicht mehr erwähnt. Festhalten möchte Knigge dennoch: "Es gibt viele, viele Kinder oder Jugendliche, die nicht zu retten waren, das wurde in der DDR gern ausgeblendet. Aber die 900 Überlebenden sind geschützt und gerettet worden vom kommunistischen Widerstand in Buchenwald. Sie sind das noch lebende Buchenwaldgedächtnis. Das müssen wir auch als Historiker festhalten. Unsere Arbeit ist ja nicht, etwas zu verkleinern. Wir wollen dem, was wirklich stattgefunden hat, Dauer geben. Mythen und Legenden kann jeder zerreißen. Man muss nur in die Akten schauen.“
Informationen zum Buch:
Bruno Apitz:“Nackt unter Wölfen“, Aufbau Verlag, 586 Seiten
ISBN 978-3-351-03390-3, € 22,99
Der DEFA-Film „Nackt unter Wölfen“, Regie Frank Beyer, liegt als DVD vor.