Flüchtig, rechts, korruptionsverdächtig? Orban gewährt Asyl
23. Dezember 2024Polen und Ungarn sind historisch auf besondere Weise verbunden. Die beiden Nationen unterstützten sich gegenseitig in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen, Freiheitskämpfer beider Länder eilten einander in existentiellen geschichtlichen Augenblicken zur Hilfe, etwa während der antihabsburgischen Revolution von 1848. Und während der antikommunistischen Revolution 1956 in Ungarn organisierten die Polen spontan Blutspendeaktionen für die Opfer der sowjetischen Invasion. "Pole, Ungar, zwei gute Freunde" ist in beiden Ländern ein Sprichwort, das jeder kennt. Und es gibt seit 2007 sogar einen offiziellen Tag der polnisch-ungarischen Freundschaft - den 23. März.
Auch Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban bewunderte einst den tiefen polnischen Freiheitswillen und den antikommunistischen Kampf der Polen - so sehr, dass er 1987 als Jura-Student seine Diplomarbeit über "Gesellschaftliche polnische Selbstorganisation am Beispiel der Gewerkschaft Solidarnosc" schrieb.
Doch nun hat ausgerechnet Orban für einen historischen Tiefpunkt in den polnisch-ungarischen Beziehungen gesorgt - indem seine Regierung dem mit europäischem Haftbefehl gesuchten ehemaligen polnischen Vize-Justizminister Marcin Romanowski am vergangenen Donnerstag (19.12.2024) Asyl gewährte.
Politischer Frontalzusammenstoß
Die Entscheidung führte umgehend zu einem politischen Frontalzusammenstoß zwischen Polen und Ungarn, deren Beziehungen seit dem Machtwechsel in Polen im Dezember 2023 ohnehin schon sehr schlecht sind. Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski bezeichnete den Schritt als "unfreundlichen Akt gegenüber Polen und den EU-Grundwerten", ließ den ungarischen Botschafter in Polen einbestellen und rief den polnischen Botschafter in Budapest zu Konsultationen zurück - ein diplomatischer Eskalationsschritt, der zwischen EU-Ländern höchst selten vorkommt.
Polens Regierungschef Donald Tusk stellte Orbans Ungarn auf eine Stufe mit dem Regime des Diktators Alexander Lukaschenko in Belarus. Dorthin war im Mai 2024 ein polnischer Richter geflüchtet, gegen den wegen Amtsmissbrauchs und Verrat von Staatsgeheimnissen ermittelt wird. "Ich dachte nicht, dass korrupte Beamten zwischen Alexander Lukaschenko und Viktor Orban wählen können", schimpfte Tusk.
"Liberale Regenbogenkoalition"
Viktor Orban hatte in einem Interview mit dem regierungsnahen ungarischen Portal Mandiner bereits am Donnerstag (19.12.2024) angedeutet, dass er "polnischen politischen Flüchtlingen" Asyl gewähren werde. Er bezeichnete die derzeitige polnische Regierung als "liberale Regenbogenkoalition", die "Rechtsstaatlichkeit und Rechtsmittel dazu nutzt, um mit dem politischen Gegner abzurechnen". Die polnisch-ungarischen Beziehungen seien "auf einem Tiefpunkt, weil die liberale polnische Regenbogenkoalition nicht in der Lage ist, zwischen Partei- und Staatspolitik zu unterscheiden", so Orban.
Tatsächlich versucht die Regierungskoalition des liberal-konservativen polnischen Premiers Tusk, genau das Gegenteil - das Geflecht von Partei- und Staatspolitik unter der national-konservativen Vorgängerregierung zu entwirren und deren Korruptionsaffären aufzuarbeiten. Einer derjenigen, der dabei im Mittelpunkt steht, ist eben jener ehemalige Vize-Justizminister Marcin Romanowski.
Immunität aufgehoben
Romanowski beaufsichtigte in den Jahren 2019-2023 den so genannten Gerechtigkeitsfond - einen Topf, aus dem Verbrechensopfer unterstützt werden sollten. Die Staatsanwaltschaft wirft dem Politiker elf Straftaten vor, darunter die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Veruntreuung sowie Manipulierung bei der Vergabe von Geldern aus dem Fond. Die Summe der beanstandenden Gelder beläuft sich auf rund 112 Millionen Zloty (ca. 25 Millionen Euro).
Der 48-jährige Abgeordnete der ehemals regierenden und heute oppositionellenPartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) war bereits im Juli kurzzeitig verhaftet, dann aber wieder freigelassen worden. Als Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats genoss er Immunität. Die hatte das Gremium dann jedoch im Oktober aufgehoben. Am 9.12.2024 ordnete ein Gericht in Warschau daraufhin eine dreimonatige Untersuchungshaft für Romanowski an. Der war da bereits untergetaucht und hatte sich nach Ungarn abgesetzt.
Am vergangenen Freitag (20.12.2024) meldete sich Romanowski in sozialen Medien zu Wort. Das Asyl für einen Abgeordneten der polnischen Opposition sei ein "starkes Warnsignal für das Regime von Tusk". Er wolle von Budapest aus für ein "souveränes, christliches und starkes Polen weiter arbeiten". Sein Ziel sei es, "das Tusk-Regime abzuschaffen".
Nicht der erste Asylfall
Der Fall veranschaulicht die gewaltigen Probleme, vor denen die Tusk-Regierung bei der Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit steht. Polens Justiz, darunter das Verfassungsgericht, ist immer noch stark von PiS-Gefolgsleuten beherrscht, und der PiS-nahe Staatspräsident Andrzej Duda zögert alle Reformen der Regierung so weit wie möglich hinaus. Das lässt auch ahnen, vor welchen Problemen Ungarn nach einem möglichen Machtwechsel steht.
Unterdessen ist es nicht das erste Mal, dass ein prominenter Korruptionsverdächtiger in Ungarn Asyl erhält. Der ehemalige mazedonische Regierungschef Nikola Gruevski flüchtete 2018 nach Ungarn und erhielt dort Asyl. Auch mehreren Politikern der ungarischen Minderheit in Rumänien gewährte die ungarische Regierung in den vergangenen Jahren zeitweise Zuflucht.
Für Polen sei die Flucht eines Abgeordneten jedoch ein Präzedenzfall, kommentiert die wertkonservative polnische Tageszeitung Rzeczpospolita. "Romanowski hat einen Verbündeten von Putin um Hilfe gebeten. Es ist eine Schande, ein Verbündeter des Verbündeten von Putin zu sein", so das Blatt. In Ungarn titelte das linke Portal Merce: "Die ungarische Regierung nutzt den Flüchtlingsschutz, um politische Verbündete zu retten".
Sexistische Bemerkung
Polnische und ungarische Medien spekulieren nun, welcher PiS-Politiker sich als nächster nach Ungarn absetzt. Es könnte der Europaabgeordnete Daniel Obajtek sein, ehemals Chef des polnischen Mineralölkonzerns Orlen. Obajtek ist seit Jahren in zahlreiche Korruptionsaffären verstrickt. Ihm droht unter anderem eine Anklage wegen Manipulation von Orlen-Ausschreibungen.
Orban heizte die Spekulationen am Sonnabend während seiner großen Jahresend-Pressekonferenz an. Als eine Journalistin konkret nach dem ehemaligen Orlen-Chef fragte, konnte sich Ungarns Premier, auch sonst bekannt für frauenfeindliche Sprüche, eine sexistische Bemerkung nicht verkneifen: "Ich weiß nicht, ob wir an denselben denken - denn man weiß ja nie, um welchen Herren es im Kopf einer Frau geht." Obajtek sei Europaabgeordneter, man müsse sich nicht mit ihm befassen, so Orban mit Blick auf die Immunität des Mannes. Der Premier fügte hinzu: "Generell gilt, dass wir uns darauf einstellen müssen, dass es noch mehr solcher Fälle geben wird und geben könnte."