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72 Stunden Mazedonien

Nemanja Rujević, z.Zt. Gevgelija19. August 2015

Tausende Flüchtlinge drängen sich am Bahnhof von Gevgelija in Mazedonien. Der stillschweigende Deal mit dortigen Behörden lautet: schnell nach Serbien. Von Nemanja Rujević, Gevgelija.

Flüchtlinge am Bahnsteig Foto: DW/N. Rujevic
Bild: DW/N. Rujevic

"Alles verdammte Terroristen", schimpft ein mazedonischer Polizist, als er mit seiner Taschenlampe versucht, die hinter den Eisenbahnwaggons versteckten Flüchtlinge zu finden. Denn der tägliche Kampf um gute Startpositionen beginnt immer dann, wenn der Zug von Thessaloniki nach Belgrad abends die griechisch-mazedonische Grenze überquert und in dem Städtchen Gevgelija hält. Zweitausend Flüchtlinge warten mit gekauften Tickets am kleinen Bahnhof, höchstens zweihundert dürften in den Zug passen. "Terroristen, was sonst? Die kommen ja schließlich aus Syrien", empört sich der Polizist weiter. Seine Kollegen nehmen es gelassener. Obwohl sie wie für Straßenschlachten mit Helmen, Schilden und Schutzwesten voll ausgerüstet sind, rauchen die meisten Ordnungshüter und unterhalten sich lachend.

Drei Tage Reisefreiheit

Dabei gibt es seit Freitag hier Szenen, die keinesfalls lustig sind. Menschen, die aus den Konfliktgebieten der ganzen Welt hierher geflohen sind, müssen kämpfen, um einen Platz in dem vollgepackten Zug zu ergattern. Kinder werden durch die Wagenfenster hinein- und herausgereicht – je nach dem, ob die Eltern es geschafft haben. Einige haben sich sogar schon mit Messern in der Hand durchgekämpft, es gab viele Verletzte. Seit kurzem stellen die mazedonische Behörden am Bahnhof den Flüchtlingen ein Papier aus, das eine ungehinderte Reise durch das Land auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglicht. Der Haken dabei: Die Reisefreiheit ist auf 72 Stunden begrenzt. Bis dann sollen die Migranten das Land wieder verlassen oder einen Asylantrag gestellt haben – was kein einziger in Mazedonien machen möchte. Drei Tage bleiben ihnen also, um knapp 180 Kilometer ins nördliche Nachbarland Serbien zu schaffen.

Durchgangsstation Bahnhof GevgelijaBild: DW/N. Rujevic

Für Mohammed sind zwei Tage schon um. Der 25-Jährige aus Pakistan sitzt an der Bahnsteigkante, umgeben von Landsleuten. Sie alle haben eine gefährliche Reise hinter sich, durch den Iran, die Türkei und schließlich mit einem Schleuserboot bis an die griechische Küste. Nach allem, was er erlebt hat, kommt Mohammed der Aufenthalt ohne Dusche und Bett in Gevgelija nicht besonders schlimm vor. "Haben Sie etwa nicht pakistanisches Fernsehen geguckt? Vor zwei Monaten haben die Taliban eine Schule gestürmt und viele Kinder getötet. Achtjährige oder Sechsjährige, völlig unschuldig." Auf Gewalt hat der zierliche junge Mann keine Lust, Gewalt, um einen Platz im Zug zu erkämpfen, erst recht nicht. Die Polizei zieht Familien mit Babys vor, das findet Mohammed in Ordnung. "Ich selber habe hier keine Chance."

Problemexport

Leute wie Mohammed sind in den letzten Tagen die besten Kunden von Angel Stanojkov. Der Taxifahrer sitzt geduldig in seinem gelben Auto, durchs Fenster dringt laute amerikanische Popmusik. Wie praktisch alle seine Kollegen aus Gevgelija wartet Stanojkov darauf, dass der ein oder andere Flüchtling den düsteren Bahnhof der Kleinstadt satt hat und tief in die Tasche greift, um schnell nach Norden zu kommen. "Wir berechnen hundert Euro für vier Personen für die Fahrt nach Tabanovce. Dieser Preis ist realistisch, nicht allzu übertrieben."

Tabanovce ist das nächste Etappenziel der sogenannten Balkanroute, ein Kaff im Norden Mazedoniens, nur zwei Kilometer von der serbischen Grenze entfernt. "Wir fahren sie eigentlich bis zum offiziellen Grenzübergang. Aber sie steigen vorher aus und gehen über wilde Wege zu Fuß nach Serbien", berichtet Stanojkov.

Der Kampf um Plätze im Zug ist mitunter wörtlich zu verstehenBild: Reuters/S. Nenov

Das kommt Mazedonien ganz gelegen. Das bitterarme Balkanland ist völlig überfordert mit dem Flüchtlingsstrom, der ungehindert aus Griechenland kommt. Schätzungen zufolge treffen jeden Tag zweitausend Menschen illegal in Mazedonien ein. Das Aufnahmesystem ist längst zusammengebrochen, dafür bietet die Aufnahmeeinrichtung Gazi Baba in der Hauptstadt Skopje ein Beispiel. Seit Monaten war die Anlage überfüllt und verriegelt – keiner durfte raus, keiner rein. Die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl sprach von einem "Haftlager". Ende Juli wurde die Einrichtung endgültig geschlossen. Seitdem verfolgt Mazedonien eine nicht besonders kreative, aber pragmatische Strategie des Problemexports: den Flüchtlingen den Weg nach Serbien zeigen und die Grenze völlig unbeaufsichtigt lassen.

Das Geschäft läuft

Der Bürgermeister von Gevgelija, Ivan Frangov, hat seine eigenen Ideen. Durch Ungarn inspiriert, schlägt er nun vor, einen Grenzzaun zwischen Mazedonien und Griechenland zu errichten. Der serbischen Nachrichtenagentur Tanjug sagte Frangov, die Flüchtlinge verschmutzten die Stadt, die von der EU und dem UN-Flüchtlingshilfswerk im Stich gelassen worden sei. Aber nicht jeder in Gevgelija würde ihm Recht geben. Denn viele nutzen die Gelegenheit, in dem sonst verschlafenen Ort an Flüchtlingen zu verdienen. Dicht stehen die Plastiktische am Bahnsteig, das Geschäft läuft: Für einen Euro sind zwei Bananen zu haben, eine Tüte Popcorn oder eine Flasche Wasser. Dasselbe kostet es, das Handy in einer der unzähligen Mehrfachsteckdosen aufzuladen. Natürlich alles ohne Rechnung. Die Polizei scheint das nicht zu stören. Die "Businessmen" hier wollen sich keinesfalls mit Journalisten unterhalten.

Die Bewohner haben sich mit der neu entstandenen Situation völlig arrangiert. Erst ein paar hundert Meter weiter, in der Fußgängerzone und in den Kneipen, bekomme man auch die Verschwörungstheorien zu hören, sagt der Taxifahrer Stanojkov. "Einige denken, dass Migranten irgendwelche Seuchen mitbringen oder dass sie uns besetzen wollen." Er selber teile diese Meinung selbstverständlich nicht, über Ursachen des Elends habe er jedoch was zu sagen. Hier vermutet Stanojkov ein schmutziges Spiel des "internationalen Faktors". "Das müssen die Amerikaner sein, vielleicht auch die Europäer. Der Krieg in Syrien ist nicht von alleine ausgebrochen."

Handy aufladen kostet einen EuroBild: DW/N. Rujevic

Mohammed, der Flüchtling aus Pakistan, interessiert sich nicht für Gerüchte. Den stillschweigenden Deal mit den mazedonischen Behörden, einfach weiter gen Serbien und Ungarn zu fliehen, akzeptiert er gerne. Dass Ungarn den Grenzzaun bis Ende August fertigbauen will, davon hat Mohammed noch nicht gehört. Für ihn ist die Sache einfach: "Viele Leute fliehen nach Europa… und ich folge." In Mohammeds Vokabular fängt das "echte Europa" erst dort an, wo man einen Asylantrag mit der Hoffnung auf ein besseres Leben stellen kann. "Wenn ich Glück habe, werde ich in Deutschland ankommen." Dort wolle er einen anständigen Job finden und sich eine sichere Zukunft aufbauen. "Wenn ich Glück habe", sagt er nochmal.

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