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PolitikArmenien

Flüchtlinge aus Berg-Karabach: Neuanfang in Armenien

Arshaluys Mgdesyan
25. September 2024

Ein Jahr nach ihrem Exodus versuchen die Menschen aus Berg-Karabach, sich in Armenien ein neues Leben aufzubauen. Trotz staatlicher Hilfe sind sie mit vielen Schwierigkeiten und einer ungewissen Zukunft konfrontiert.

Eine Frau und zwei Kinder mit Gepäck flüchten aus Berg-Karabach
Vertrieben: Flüchtlinge aus Berg-Karabach im September 2023Bild: Vasily Krestyaninov/AP/dpa/picture alliance

Mehr als 100.000 Menschen mussten vor einem Jahr aus Berg-Karabach fliehen. Armenien und Aserbaidschan haben mehrere Kriege um die Region geführt. Berg-Karabach wurde überwiegend von ethnischen Armenierinnen und Armenier bewohnt, das Gebiet gehört jedoch völkerrechtlich zu Aserbaidschan.

Im September 2023 übernahm Baku nach einer zweitägigen Militäroperation die vollständige Kontrolle über das Gebiet. Die Republik Berg-Karabach war ein De-facto-Staat, aber international nicht anerkannt. Nach der aserbeidschanischen Offensive hörte sie auf zu existieren. Die Folge war die größte Fluchtbewegung in der Region seit den 1990er Jahren. Die Menschen aus Berg-Karabach müssen sich seitdem in Armenien ein neues Leben aufbauen. Ein DW-Reporter hat einige von ihnen getroffen.

Exodus: Bewohner von Berg-Karabach verlassen ihre Heimat Ende September 2023Bild: SIRANUSH ADAMYAN/AFP/Getty Images

Armenische Willkommenskultur

Azat Adamyan, Besitzer der einst in Berg-Karabach beliebten Kneipe Bardak, verließ im September vergangenen Jahres zusammen mit Zehntausenden Landsleuten die Region. Der 34-Jährige aus Stepanakert, der einstigen Hauptstadt der Republik, wollte zunächst nicht in Armenien bleiben, sondern in ein anderes Land auswandern. Doch er änderte seine Meinung. "Ich dachte, dass uns hier niemand haben will, aber es stellte sich heraus, dass das dem nicht so ist. Es gibt viele hilfsbereite Menschen", sagt Adamyan, der mit seiner siebenköpfigen Familie in der armenischen Hauptstadt Jerewan lebt.

Eine größere Kneipe: Azat Adamyan hat in Jerewan das Bardak neu eröffnetBild: privat

Nur zwei Monate nach der erzwungenen Umsiedlung machte Adamyan seine Kneipe Bardak wieder auf, aber nun in Jerewan. "Das Lokal ist jetzt zehnmal größer als sein Vorgänger in Berg-Karabach", sagt er im Gespräch mit der DW. 

Die ersten Besucher seien überwiegend Menschen aus Jerewan gewesen, so Adamyan. "Denn unsere Landsleute waren zutiefst deprimiert. Aber nach und nach überwinden sie diesen Zustand und kommen in unsere Kneipe." Inzwischen seien etwa die Hälfte seiner Gäste ehemalige Bewohner von Berg-Karabach.

Zuschuss zu Miete und Nebenkosten

Die Lebensbedingungen der Flüchtlinge sind immer wieder Gegenstand politischer Debatten in Armenien. Nach Angaben der nationalen Sicherheitsbehörden sind von den Neuankömmlingen aus Berg-Karabach innerhalb eines Jahres mehr als 24.000 Menschen in andere Länder weitergezogen. Etwa die Hälfte von ihnen ist wieder nach Armenien zurückgekehrt, die andere Hälfte ist im Ausland geblieben.

Ganze Generationen auf der Flucht: Geflüchtete aus Berg-Karabach im September 2023Bild: DAVID GHAHRAMANYAN/REUTERS

In Armenien haben viele Menschen aus Berg-Karabach mit Problemen zu kämpfen. Sie finden nur schwer Arbeit und eine bezahlbare Wohnung. Die armenische Regierung gewährt ihnen darum noch bis Ende 2024 finanzielle Hilfen. Dazu gehören unter anderem umgerechnet etwa 125 Euro Zuschuss zu Miete und Nebenkosten. "Das hilft mir, die Kosten für die Wohnung von etwa 450 Euro pro Monat zu bezahlen", sagt Adamyan. Er betont, dass er seinen Lebensunterhalt jedoch selbst verdienen müsse.

Nach Angaben der armenischen Behörden haben rund 23.000 Menschen aus Berg-Karabach feste Arbeitsverträge in der Tasche.

Kaum Arbeit im gelernten Beruf

Nanar Poghosyan, eine 33-jährige Rechtsanwältin, hat zwölf Jahre lang im Justizwesen von Berg-Karabach gearbeitet. Sie sieht ihre Zukunft "ausschließlich in Armenien", wie sie sagt. "Ich habe schon die armenische Staatsbürgerschaft erhalten, denn für mich ist es wichtig, hier zu leben und zu arbeiten. Ans Auswandern denke ich nicht, weil ich hier meiner ursprünglichen Heimat näher bin", betont Poghosyan.

Kann nicht mehr als Anwältin arbeiten: Nanar Poghosyan aus Berg-Karabach in ArmenienBild: privat

Die Anwältin, die ihr gesamtes Eigentum in Berg-Karabach zurückgelassen hat, hofft auf ein "besseres Leben", auch wenn sie täglich mit Problemen zu kämpfen hat. "Meine Mutter ist Lehrerin mit viel Arbeitserfahrung, aber heute verkauft sie selbstgemachte Süßigkeiten und Kuchen und arbeitet zudem seit kurzem als Erzieherin in einem Kindergarten." Ihr Bruder, Anwalt wie sie, arbeite als Taxifahrer. Zwei Schwestern verkauften ebenfalls Süßigkeiten.

"Ich engagiere mich bei mehreren wohltätigen Initiativen und versuche so, Menschen zu helfen, darunter auch meinen Landsleuten", erzählt Poghosyan. Sie unterstreicht, dass sie von Freunden in Armenien stark unterstützt werde.

Ein großzügiges Wohnungsbauprogramm...

Das kleine Armenien hat rund drei Millionen Einwohner - mit den Menschen aus Berg-Karabach sind etwa 100.000 Personen dazugekommen. Die Regierung möchte verhindern, dass sie auswandern - darum hat sie im Mai ein Programm zur Förderung des Wohnungsbaus aufgelegt.

Das letzte Hab und Gut: Ankunft in Armenien Ende September 2023Bild: Vasily Krestyaninov/AP Photo/picture alliance

Familien aus Berg-Karabach, die mittlerweile die armenische Staatsbürgerschaft besitzen, können pro Familienmitglied umgerechnet bis  zu 11.600 Euro für den Kauf oder Bau von Wohnraum bekommen. Sollte die Familie sich über längere Zeit nicht in Armenien aufhalten, kann die Unterstützung wieder gestrichen werden.

... das nur wenigen Menschen hilft

Das Förderprogramm stößt jedoch nicht auf große Begeisterung. Bis September wurden 916 Anträge eingereicht, von denen nur 30 bewilligt wurden. Hauptablehnungsgrund: Es sind noch nicht alle Familienmitglieder armenische Staatsbürger. Es gibt nur ein paar tausend Einbürgerungsverfahren und die laufen schleppend.

Die 42-jährige Diana Gharibyan gehört zu den wenigen Flüchtlingen, die darüber nachdenken, die armenische Staatsbürgerschaft zu beantragen, um vom staatlichen Wohnungsbauprogramm zu profitieren. Für sie sei es eine emotionale Überwindung, ihren bisherigen Berg-Karabach-Ausweis aufzugeben. "Am Ende werde ich eine Entscheidung treffen müssen", sagt Gharibyan im Gespräch mit der DW. Sie lebt mit ihrer neunköpfigen Familie in der Stadt Masis, etwa 14 Kilometer südlich von Jerewan.

Denkt über die armenische Staatsbürgerschaft nach: Diana Gharibyan lebt heute in der Nähe von JerewanBild: privat

Der aus Berg-Karabach stammende armenische Politikwissenschaftler Tigran Grigoryan meint, das Wohnungsbauprogramm der armenischen Regierung komme nicht an, weil es nur denjenigen nutze, die über ein stabiles Einkommen verfügen würden, also erwerbstätig und zahlungsfähig seien. "Der Erwerb von Wohnraum ist in den zentralen Regionen des Landes aufgrund der hohen Preise für die meisten nahezu unmöglich, und in den Grenzgebieten wollen sich die Menschen nicht niederlassen, weil es dort keine Arbeit gibt", erläutert Grigoryan im Gespräch mit der DW.

Die Flüchtlinge ziehe es meist nach Jerewan und in die umliegenden Orte. Hier sei der wichtigste Arbeitsmarkt des Landes. "In Jerewan kann man zum Beispiel als Taxifahrer seinen Lebensunterhalt bestreiten, während das in abgelegenen Gegenden schwierig ist."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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