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Politik

Von Belarus nach Brandenburg

Agnieszka Hreczuk
15. Oktober 2021

Die Zahl der Ausländer, die über Belarus und Polen illegal nach Deutschland einreisen, steigt. Die meisten von ihnen kommen provisorisch im brandenburgischen Eisenhüttenstadt unter.

Eisenhüttenstadt | Flüchtlingslager
Ein kurdisches Mädchen vor einem Wohncontainer im Erstaufnahmelager EisenhüttenstadtBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Hovek ist glücklich. Seit vier Tagen hat er im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt ein Dach über dem Kopf, ein warmes Bett und gutes Essen. Und Ruhe und Frieden. Niemand schreit ihn an, niemand jagt ihn davon. Anders als in Polen und Weißrussland, sagt Hovek, ein 29-jähriger Friseur aus Syrien. "Die Belarussen drohten uns mit Gewehren und befahlen uns, nach Polen zu gehen, die Polen blockierten den Weg und schrien, 'Go back to Belarus!'. Und so sind wir hin und her gelaufen", erzählt er schnell auf Englisch. "Go to Belarus", wiederholt er, als ob er sicher gehen wolle, dass man ihn verstanden hat.

Sie hätten wirklich Angst gehabt, dort zu sterben, sagt Hovek. "Wir hatten nichts zu essen, es war kalt und nass. Wir haben Wölfe vorbei laufen sehen." Sie hätten Wasser von Blättern getrunken oder aus einem schlammigen Bach. So sei es acht Tage lang gegangen, berichtet Hovek.

Der 29-jährige Hovek aus Syrien. Er möchte unerkannt bleibenBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Die Gruppe verirrte sich, die Leute verloren einander aus den Augen. Schließlich gelang es Hovek, unbemerkt nach Polen zu kommen. Ein paar Kilometer hinter der Grenze habe er ein Taxi gefunden, wie er es ausdrückt. Vielleicht war es nur ein privates Auto, dessen Fahrer etwas verdienen wollte. Hovek bezahlte 2500 Dollar für die Fahrt nach Frankfurt/Oder. An der Brücke hielt ihn die Bundespolizei an und brachte ihn nach Eisenhüttenstadt - und nicht zurück in den Wald. Deshalb schwärmt Hovek immer noch von der deutschen Polizei.

Stetig steigende Zahl von Flüchtlingen

In den vergangenen Wochen ist die Zahl der Ausländer, die wie Hovek über Belarus und Polen nach Deutschland gekommen sind, stetig gestiegen. Die meisten von ihnen überquerten die Grenze in Brandenburg. Im August nahm die Bundespolizei dort 200 Ausländer fest, die die Grenze illegal überschritten hatten. Im September waren es bereits über 1500, in den ersten beiden Oktoberwochen über 900. Zum Vergleich: In den vorangegangenen Monaten waren es nur 26 Personen. Allein am 30. September stoppten deutsche Grenzbeamte zwei Lastwagen mit jeweils 40 Personen aus dem Irak, Iran und Syrien. "Wir gehen davon aus, dass es in diesem Monat 4000 Menschen und in den folgenden Monaten noch mehr sein könnten", sagt Olaf Jansen, Leiter des Erstaufnahmelagers in Eisenhüttenstadt.

Ehemalige Kaserne: Gebäude des Erstaufnahmelagers EisenhüttenstadtBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Das Lager am Rande der Stadt besteht aus langen, mehrstöckigen gelben Gebäuden, zwischen denen asphaltierte Straßen verlaufen. Früher dienten sie als Kasernen. Die Gebäude sind umzäunt, am Eingang zum Gelände befindet sich eine Schranke und eine Sicherheitskabine. Die Bewohner können jedoch problemlos ein- und ausgehen. "Dies ist ja ein Aufnahmelager, kein Gefängnis", sagt ein Angestellter schulterzuckend.

Der Eingang zum Erstaufnahmelager EisenhüttenstadtBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Flüchtlingsunterkünfte voll

Dutzende von Menschen sitzen auf dem grasbewachsenen Platz in der Mitte des Lagers. Männer, Frauen, viele Kinder, die ganze Altersspanne. Theoretisch kann das Zentrum bis zu 3500 Personen aufnehmen. Darüber hinaus wurden Container als Quarantänezonen für Neuankömmlinge und an COVID-19 Erkrankte aufgestellt. Auf der anderen Seite stehen beheizte Zelte für erste Übernachtungen der Ankommenden, versichert Jansen - für den Moment. Denn die Brandenburger Behörden gehen davon aus, dass bis Ende Oktober alle Flüchtlingsunterkünfte im Land voll sein werden.

Brandenburg rechnet mit steigenden Flüchtlingszahlen, in Eisenhüttenstadt wurden zusätzliche Zelte aufgestelltBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Brandenburgs Sozialministerin Ursula Nonnenmacher teilte den Landkreisen am vergangenen Wochenende mit, dass sie angesichts der neuen Situation weitere Flüchtlinge unterbringen müssten. Das Ministerium nennt derzeit eine Zahl von 5423 Flüchtlingen, die demnächst auf die Kommunen verteilt werden sollen. Noch im Juli lag diese Zahl bei 3173 Personen.

Chance auf ein besseres Leben in Deutschland?

Der dreijährige Riwan spielt nicht mit den anderen Kindern, sondern klammert sich fast die ganze Zeit an das Bein seines Vaters Sabah. Er lächelt kaum, mit seinen dunklen Augen schaut er ernst und vorsichtig. Nach sechs Tagen in Eisenhüttenstadt hat Riwan offensichtlich noch immer Angst, sich zu verlaufen. Sabah, ein Kurde aus dem Irak, wollte seine Frau und seine drei Kinder nicht daheim zurücklassen und erst später nachholen. Die Eheleute und ihre Kinder, neben Riwan eine sechsjährige Tochter und ein vierzehnjähriger Sohn, machten sich gemeinsam auf den Weg.

Sabah mit seinen beiden jüngeren KindernBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Viermal wurden sie an der belarussisch-polnischen Grenze aufgegriffen. Einheimische im polnischen Grenzgebiet gaben ihnen zu trinken und den Kindern trockene Kleidung. Doch die Grenzsoldaten, sagt Sabah, "brachten uns einfach in den Wald zurück". Er hatte Angst, dass die Kinder erfrieren würden, als sie auf dem Boden schlafen mussten. Schließlich gelang es der Familie, an den polnischen Wachen vorbeizukommen und einen Fahrer zu finden, der sie, wie auch Hovek, gegen Geld zur polnisch-deutschen Grenze fuhr. Jetzt glaubt Sabah, dass seine Kinder in Deutschland, wo Kurden nicht verfolgt werden, eine Chance auf ein besseres Leben haben.

Viele Flüchtlinge aus dem Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt könnten bald wieder nach Polen zurückgeschickt werdenBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Ein Traum, der wenig Chancen hat, sich zu erfüllen. Auf der Grundlage der Dublin-II-Verordnung müssen Flüchtlinge in dem ersten Land, über das sie in die Europäische Union eingereist sind, einen Asylantrag stellen. Im Falle der an der deutsch-polnischen Grenze aufgegriffenen Personen ist dies leicht zu beweisen. Sie selbst machen keinen Hehl daraus, wie sie nach Deutschland gekommen sind. Sie können einen Antrag stellen, aber wahrscheinlich werden sie nach Polen zurückgeschickt. Vergangenes Jahr hat Deutschland auf dieser Grundlage 3000 Personen in das Nachbarland zurückgesandt. Nur einer kleinen Zahl von Flüchtlingen wurden Ausnahmen gewährt, meist aus humanitären Gründen.

Flüchtlinge zwischen Stacheldraht auf beiden Seiten

Es ist unklar, ob und wie diese Entscheidungen durch eine kürzliche Änderung des polnischen Ausländerschutzgesetzes beeinflusst werden. Diese ermöglicht es, Anträge von Personen, die die Grenze außerhalb eines offiziellen Grenzübergangs überquert haben, sofort abzulehnen und sie unverzüglich über die Grenze zurückzuschicken. Schon jetzt schieben polnische Grenzschutzbeamte Flüchtlinge zurück - nicht an einem Grenzübergang, sondern in Wäldern oder Sümpfen. Da Belarus, wie zuvor Polen, an einigen Stellen einen Zaun errichtet hat, wird es immer schwieriger, diese Hindernisse zu überwinden. Flüchtlinge werden buchstäblich eingesperrt - zwischen dem Stacheldraht auf beiden Seiten.

Flüchtlinge vor einem Wohncontainer im Erstaufnahmelager EisenhüttenstadtBild: Agnieszka Hreczuk/DW

Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen appelliert an die anderen Bundesländer, vorerst einen Teil der Flüchtlinge solidarisch aufzunehmen. Zugleich fordert er eine Reaktion der Europäischen Kommission und des deutschen Außenministeriums. "Ich erwarte, dass dem Menschenhandel Lukaschenkos endlich ein Ende bereitet wird. Wir können hier in Eisenhüttenstadt nur die Symptome dieser Flüchtlingswelle heilen, die Ursache sitzt in Minsk und muss gestoppt werden", sagte Stübgen während einer Pressekonferenz im Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt.

In Frankfurt/Oder bereitet sich die Bundespolizei unterdessen auf eine weitere Eskalation der Situation an der Grenze vor. Auf einem städtischen Gelände stehen bereits Zelte und tragbare Toiletten bereit, die von Flüchtlingen genutzt werden können.

Gefangen zwischen Polen und Belarus

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