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PolitikPakistan

Flüchtlingsdrama: Warum riskieren Pakistaner ihr Leben?

Haroon Janjua
29. Juni 2023

Die meisten Opfer der jüngsten Flüchtlingskatastrophe in Griechenland waren Pakistaner. Im Gespräch mit der DW erzählen Angehörige, warum so viele Menschen ihr Leben für eine Zukunft in Europa riskieren.

Italien Kalabrien Cutro | Bootsunglück mit vielen Toten
Immer wieder kommt es zu Unglücken: Wie viele Flüchtlinge bisher im Mittelmeer ertrunken sind, ist nicht bekannt Bild: Alessandro Serranó/AGF/Avalon/Photoshot/picture alliance

Am Abend des 14. Juni war Muhammad Gulfam bei sich zuhause in einem abgelegenen Bergdorf im Norden Pakistans als er einen Anruf von seinem Cousin erhielt. Dieser berichtete von einem Migrantenboot, das an diesem Tag vor der griechischen Küste gekentert war. Sein jüngerer Bruder Aakash Gulzar war an Bord des Bootes gewesen. Der 21-jährige Gulzar war arbeitslos in Pakistan und sah keine Perspektiven in dem von Armut geplagten Land. Aus diesem Grund entschied er sich, Schmuggler zu bezahlen und sich auf eine monatelange Reise über tausende Kilometer, auf beschwerlichen Land- und Seewegen, nach Italien zu begeben.

Die Reise war keineswegs billig. Gulzars Familie musste 7.000 Euro zusammenkratzen, um einen Schlepper zu bezahlen, der ihn illegal nach Europa bringen sollte. Sie hofften, dass er dort ein besseres Leben finden könnte. An einem späten Nachmittag im März nahm Gulzar Abschied von seiner Mutter und seinen Brüdern und machte sich auf den Weg.

"Wir möchten nicht glauben, dass dies der endgültige Abschied ist. Wir wollen ihn wiedersehen und hoffen, dass er einer der Verletzten im Krankenhaus ist", sagt Gulfam gegenüber der DW. Naseem Begum, Gulzars Mutter, erzählt weiter, dass sie mit ihrem Sohn telefoniert habe, als er gerade dabei war, auf das überladene Boot zu gehen. "Mein Sohn bat am Telefon um Gebete und sagte: 'Ich werde dich anrufen, sobald ich mein Ziel erreicht habe'", erzählt Nazeem Begum.

Pakistans Migrationsproblem

Zeugenaussagen zufolge handelte es sich bei dem Boot, auf dem sich Gulzar befand, um ein überfülltes Fischerboot von etwa 30 Metern (100 Fuß) Länge. Es transportierte mehr als 700 Menschen von Libyen nach Griechenland. Etwa 50 Meilen (80,5 Kilometer) vor der Küste von Pylos, einer kleinen griechischen Küstenstadt, kenterte das Boot und versank im Meer.

Gulzar wird immer noch vermisst und ist höchstwahrscheinlich tot.  Nazeem Begum hat DNA-Proben geschickt, damit ihr Sohn identifiziert werden kann, sollte seine Leiche gefunden werden.

Laut Informationen des pakistanischen Innenministeriums waren 350 der Passagiere pakistanische Staatsbürger. Sie gehören zu den Tausenden von Menschen, die vor der Wirtschaftskrise in dem südasiatischen Land fliehen.

Viele junge Menschen in Pakistan träumen von einem besseren Leben in Europa Bild: Nicolas Economou/NurPhoto/picture alliance

Laut Frontex, der Grenz- und Küstenwache der Europäischen Union, wurden in den ersten fünf Monaten des Jahres 2023 auf der "zentralen Mittelmeerroute" eine Rekordzahl von fast 5.000 Pakistanern erfasst, die versuchten, nach Europa zu gelangen.

"Wir wissen, dass es eine Kombination aus einem Mangel an menschenwürdiger Arbeit und einer allgemeinen Desillusionierung über die Zukunft des Landes ist, die junge Pakistaner dazu drängt, gefährliche und illegale Migration als Mittel zu einem besseren Leben zu nutzen. Die Opfer auf diesem Boot müssen genau das erlebt haben", sagt Imran Khan, Landesdirektor für Pakistan am United States Institute of Peace, einer US-Bundesbehörde. "Sie waren sich der Risiken bewusst, die sie eingingen", fügt er hinzu. "Diese Opfer könnten heute noch am Leben sein, wenn es in Pakistan bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, wirtschaftliche Sicherheit und politische Stabilität gäbe."

In einem Dorf in der Nähe von Gulzars Haus im Norden Pakistans berichtete Sardar Mushtaq Ahmad, ein örtlicher Bezirksbeamter, im Gespräch mit der DW, dass 24 junge Männer aus der Gegend nach dem Bootsunfall als vermisst gemeldet wurden. Die Angehörigen haben DNA-Proben zur Verfügung gestellt, um die Identifizierung der geborgenen Leichen zu erleichtern.

Unter den Vermissten befindet sich auch der 31-jährige Sajid Yousaf. Er betrieb auf dem lokalen Markt ein Geschäft für Geschirr. Er schaffte es aber nicht, über die Runden zu kommen. Zwei Brüder Yousafs waren bereits nach Italien ausgewandert, wobei einer von ihnen denselben Weg wie er über das Mittelmeer gewählt hatte.

"Wir zahlten dem Schmuggler 7.100 Euro, um Sajid nach Italien zu schicken, wo bereits zwei meiner Söhne leben und gut verdienen", erzählt Muhammad Yousaf, Sajids Vater, im Gespräch mit der DW.

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Wie gehen Menschenhändler in Pakistan vor?

Laut einer Umfrage des Mixed Migration Centre aus dem Jahr 2022, einer in Europa ansässigen Forschungsgruppe für Migration, haben etwa 90 % der Pakistaner, die in den letzten Jahren nach Italien gekommen sind, einen Menschenhändler bezahlt. Die Schmuggler und Zwischenhändler suchen in armen Städten und Dörfern nach Jugendlichen und versprechen ihnen eine glänzende Zukunft in Europa. Im Gegenzug dafür ist eine Pauschalzahlung von 6.000 bis 10.000 Euro fällig, die an die "Chefs" in den europäischen Zielländern geht.

Die Familien von Gulzar und Yousaf berichteten der DW, dass sie mit mehreren örtlichen "Händlern" verhandelt hätten und einen in Italien lebenden Vermittler für die Reise bezahlt hätten.

Einer dieser "Agenten" sprach mit der DW unter der Bedingung der Anonymität und gab an, dass der Schmuggelmarkt zugenommen habe, weil sich die Wirtschaftslage in Pakistan verschlechtert habe und ausländische Währungen gegenüber der pakistanischen Rupie an Wert gewonnen hätten. "Diejenigen, die nach Europa fliehen wollen, sind sich der Notlage, der lebensbedrohlichen Risiken und Gefahren bewusst, aber sie ignorieren diese Risiken und entscheiden sich für die Reisen", erklärte er.

Pakistan geht hart gegen Menschenhandel vor

Aufgrund der zunehmenden Zahl illegaler Auswanderer hat die pakistanische Bundesermittlungsbehörde von der Regierung den Auftrag erhalten, verstärkte Maßnahmen gegen Schmuggler und Vermittler zu ergreifen, insbesondere nach der jüngsten Tragödie.

"Wir haben landesweit 27 Menschenhändler festgenommen. Gegen sie wurden 70 Fälle von illegalem Menschenschmuggeln registriert", berichtet Sprecher Abdul Ghafoor im Gespräch mit der DW. Pakistan hat internationale Protokolle zur Bekämpfung des Menschenhandels unterzeichnet und im Jahr 2018 das Gesetz zur Verhinderung des Menschenhandels verabschiedet. Dieser Schritt hat aber den Aktivitäten im internationalen Menschenhandel nicht gestoppt. "Während sich die Gesetzgebung im Laufe der Jahre verbessert hat, ist die Umsetzung noch nicht vollständig abgeschlossen", sagt Ghafoor.

Osama Malik, Experte für pakistanisches Einwanderungs- und Flüchtlingsrecht sieht ebenfalls, dass sich die Gesetzgebung im Laufe der Jahre verbessert habe, kritisiert aber gleichzeitig im Gespräch mit der DW: "Ihre Umsetzung ist mangelhaft und muss verbessert werden, wenn Pakistan dem Menschenhandel entgegenwirken will". Malik führt weiter aus, dass die wenigen Strafverfolgungsmaßnahmen sich nur gegen Vermittler aus der unteren Ebene richteten, während angeblich mitschuldige Regierungsbeamte und Menschenhändler-Bosse ungestraft blieben.

"Es sind die Fußsoldaten der Menschenhandelsmafia, die gelegentlich festgenommen werden, aber selbst in solchen Fällen kommt es selten zu Verurteilungen. Es ist bekannt, dass die Menschenhandelskartelle enge Verbindungen zu bestimmten einflussreichen politischen Familien im Zentrum des Punjabs haben sowie Verbindungen zum Militär und zur Bürokratie", sagt Malik und fügt hinzu: "Die Hauptlösung für dieses Problem besteht darin, dass Pakistan seine Regierungsführung verbessert, sich an die Rechtsstaatlichkeit hält und die Wirtschaft ankurbelt, damit junge Menschen nicht das Bedürfnis verspüren, solche Risiken einzugehen, um zu entkommen".

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