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Lehrer werden zu Flüchtlingshelfern

Helena Baers16. Februar 2016

300.000 Flüchtlingskinder kommen voraussichtlich in diesem Jahr in deutsche Kitas und Schulen. Eine Herausforderung für Erzieher und Lehrer, die das deutsche Schulsystem dauerhaft verändern könnte.

Flüchtlinge - Willkommensklasse Foto: Britta Pedersen
Bild: picture-alliance/dpa

An den Ständen mit Unterrichtsmaterialien für Deutsch als Zweitsprache auf der Bildungsmesse Didacta in Köln ist der Andrang groß. Viele Lehrer suchen dringend nach Büchern, die ihnen beim Unterricht für Flüchtlingskinder und Zuwanderer helfen. Eine von ihnen ist Gwendolyn Dembowsky. Sie unterrichtet an einer Realschule in Ratingen inzwischen die meiste Zeit eine Willkommensklasse. "Das sind 21 Kinder im Alter von zehn bis 16 Jahren", berichtet sie der DW. Das Problem dabei: "Manche bringen viel Schulerfahrung mit, manche sind nicht mal alphabetisiert."

Wie ihr geht es derzeit vielen Lehrern in Deutschland. Nach aktuellen Schätzungen werden in diesem Jahr rund 300.000 Flüchtlingskinder in die Bundesrepublik kommen - und damit in die Kitas und Schulen. Für die Lehrer geht es erst mal darum, neben der deutschen Sprache ganz Praktisches zu vermitteln, erzählt Dembowsky. "Zum Beispiel, dass man nur in den Pausen auf die Toilette geht." In ihrer Schule kommen 40 der rund 270 Schüler aus einem anderen Land. Das beeinflusst auch den normalen Unterricht, in den die Kinder kommen, wenn sie in der Willkommensklasse genug Deutsch gelernt haben. "Manche kommen dann in die 8. Klasse und können kein Englisch."

Hochbegehrt auf der Bildungsmesse didacta: Material zum Thema "Deutsch als Zweitsprache"Bild: DW/H. Baers

Eine Extremsituation für Lehrer

Daniela Neuhaus berichtet Ähnliches. Sie ist Lehrerin an einem Gymnasium in der Nähe von Köln. "Jedes Kind ist anders: ein Kind kann Englisch, ein Kind kann Deutsch, ein Kind kann gar nichts", hat sie festgestellt. Vielen fehle vor allem die fachliche Bildung.

Mathematiklehrer Michael Henning unterrichtet derzeit an einer Gesamtschule in Niedersachsen eine Klasse, in der fast nur Flüchtlingskinder sitzen. Eigentlich sollen sie neben 15 Stunden Deutsch auch fünf Stunden pro Woche Mathe lernen. "Aber da geht eigentlich gar nichts". Erst mal müsse er schauen, wie weit die Kinder seien. In seinen 43 Jahren als Lehrer habe er noch nichts Vergleichbares zur aktuellen Situation erlebt, erzählt er.

Bildungswirtschaft: Konzepte infrage stellen

Viele Lehrer stellt die hohe Zahl der Flüchtlingskinder vor große Herausforderungen. Deshalb ist sie das große Thema auf der Bildungsmesse Didacta in Köln. Bis Samstag werden 100.000 Besucher erwartet. Der Didacta Verband der Bildungswirtschaft ist einer der ideellen Träger der Messe. Präsident Wassilios Fthenakis fordert neue Konzepte: "Man sollte nicht allein auf den Spracherwerb setzen." Es sei auch notwendig, das Selbstwertgefühl der Kinder zu stärken - über deren eigene Sprache und eigene Kultur, betont er im DW-Gespräch. Dafür seien neue Technologien entscheidend, denn viele Flüchtlinge hätten Smartphones. "Die Botschaft der Messe ist: wir haben die Aufgabe, unsere Konzepte zu überprüfen und weiter zu entwickeln."

Wassilios Fthenakis, Präsident des Didacta-VerbandesBild: DW/H. Baers

Norbert Hocke von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erwartet, dass die Flüchtlinge das deutsche Schulsystem dauerhaft verändern. "Wir können das Problem nur lösen, wenn wir uns von den starren Lehrmethoden, wie wir bisher haben, verabschieden." Mit Flüchtlingskindern könne man nicht einfach ein Buch aufschlagen und dann einen Test vorbereiten. Er mahnt wie Wassilios Fthenakis: "Der Lehrplan muss hinterfragt werden."

Seine Gewerkschaft fordert vor allem, dass neben Lehrern auch noch andere Helfer in die Schule kommen und dann gemeinsam an der Integration der Kinder und Jugendlichen arbeiten. "Es reicht nicht nur zu sagen, wir brauchen 25.000 neue Lehrer."

Spielerischer Zugang zum Deutschlernen

Die Schulbuchverlage haben sich inzwischen auf die vielen Flüchtlingskinder eingestellt und zahlreiche Lehrmaterialien erstellt. Klaus Holloch vom Cornelsen Verlag sagt: "Wir kümmern uns darum, die Lehrer fit zu machen." Viele hätten noch keine Erfahrungen mit Willkommensklassen. Bei den Lehrmaterialien gebe es einen großen Trend, berichtet er: "Meistens sind es spielerische Zugänge."

Das wiederum beklagen manche Lehrer. Gwendolyn Dembowsky berichtet, dass gerade die älteren männlichen Jugendlichen in der Klasse abschalteten, wenn die Materialien zu kindlich aufgemacht seien. Mathelehrer Michael Henning hat festgestellt, dass es für sein Fach gar keine speziellen Lehrbücher für Flüchtlingskinder gibt.

Norbert Hocke von der GEWBild: DW/H. Baers

Schulpflicht bis 25?

Die aktuelle Diskussion in der Politik über Flüchtlinge verfolgen auch die Lehrer und Bildungsexperten. Die von der CDU geforderte Ausweitung der Schulpflicht auf 25 Jahre für Flüchtlinge, die mit 18 noch ohne Schulabschluss sind, sehen sie eher skeptisch. Mathelehrer Henning meint, ältere Flüchtlinge sollten besser über die berufliche Bildung aufgefangen werden. GEW-Vorstand Hocke betont: "Wir brauchen einen Abschluss für diese Jugendlichen." Gerade jungen unbegleiteten Flüchtlingen müsse auch als über 18-Jährigen die Möglichkeit gegeben werden, einen Abschluss zu machen. Dafür brauche es aber keine Schulpflicht.

Alle Seiten sind sich einig, dass noch sehr viel zu tun ist, um die Flüchtlingskinder erfolgreich zu integrieren. Ebenfalls einer Meinung sind die Bildungsexperten aber auch, wenn es um die Motivation der Flüchtlingskinder geht. "Der Eindruck ist, dass sie froh sind, in der Schule zu sein", sagt Daniela Neuhaus. Michael Henning betont: "Es macht Spaß, die Kinder zu unterrichten."

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