Flüchtlingskrise: Seehofer greift Merkel an
11. September 2015Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat Bundeskanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingspolitik scharf angegriffen. Im Magazin "Der Spiegel" bezeichnete Seehofer die Entscheidung Merkels, tausende Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland fahren zu lassen als "Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird". Er fügte hinzu: "Ich sehe keine Möglichkeit, den Stöpsel wieder auf die Flasche zu kriegen." Deutschland komme bald in "eine nicht mehr zu beherrschende Notlage", sagte Seehofer.
Einladung an Orban
Der bayerische Ministerpräsident will nun gemeinsam mit dem rechtsgerichteten ungarischen Regierungschef Viktor Orban nach einer Lösung der Flüchtlingskrise suchen. Er werde Orban zur nächsten Klausur der CSU-Landtagsfraktion einladen, sagte Seehofer. Orban fährt in der Flüchtlingspolitik einen harten Kurs und hat Deutschland wiederholt für die Krise verantwortlich gemacht. Seehofers Ankündigung darf als Affront gegen Merkel gewertet werden.
Regierung gibt sich gelassen
Die Bundesregierung reagierte demonstrativ gelassen auf Seehofers Äußerungen. Vize-Regierungssprecherin Christiane Wirtz sagte, die Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD hätten im Koalitionsausschuss in "großer Einigkeit" weitreichende Beschlüsse gefasst. "Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass diese Einigkeit von den Parteivorsitzenden in irgendeiner Form in Abrede gestellt wird."
Am vergangenen Wochenende hatte Berlin in Absprache mit Österreich und Ungarn beschlossen, wegen einer "humanitären Notlage" in Ungarn festsitzenden, meist aus Syrien stammenden Flüchtlingen die Einreise ohne bürokratische Hürden und Kontrollen zu erlauben. Daraufhin waren bis Montag rund 20.000 Migranten nach Deutschland gekommen.
40.000 Flüchtlinge am Wochenende
Nach den Worten von Außenminister Frank-Walter Steinmeier rechnet die Bundesregierung für dieses Wochenende mit rund "40.000 Flüchtlinge aus den südlichen und südöstlichen Nachbarländern". Dies seien dramatische Zahlen, sagte der SPD-Politiker. In der bayerischen Landeshauptstadt München, wo die meisten Züge mit Flüchtlingen ankommen, wurden in der Nacht zum Samstag 10.000 Menschen erwartet. Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) forderte die anderen Bundesländer dringend zur Unterstützung auf. München sei mit seinen Kapazitäten am Limit. Es sei Aufgabe der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten der Länder, mehr zu tun.
De Maziere: Zustrom entschleunigen
Bundesinnenminister de Maizière warnte, das Tempo der Flüchtlingszuwanderung sei zu hoch. "Deswegen müssen wir an einer Entschleunigung arbeiten, damit wir auch in Deutschland nicht an eine Belastungsgrenze stoßen." Auch die Innenminister der Länder sehen Engpässe.
"Wir wissen, dass auch unsere Aufnahmemöglichkeiten an Kapazitätsgrenzen stoßen werden", sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der rheinland-pfälzische Ressortchef Roger Lewentz (SPD), der Deutschen Presse-Agentur. "Wir brauchen Flächen, damit es eben nicht zu einem Kollaps kommt." Nach Angaben des ARD-Hauptstadtstudios prüfen Bund und Länder zur Unterbringung von Flüchtlingen eine zeitlich befristete Zwangsvermietung leer stehender Immobilien.
Bundespräsident Joachim Gauck rief zu entschlossenem und unbürokratischem Handeln in der Flüchtlingskrise auf. Bei der Eröffnung des zweitägigen Bürgerfestes im Park von Schloss Bellevue warnte Gauck zugleich vor "Blauäugigkeit" und verglich die Integration der Flüchtlinge mit einem Marathonlauf. "Es kommen auch härtere Zeiten auf uns zu", sagte der Präsident. Gemeinsam mit Merkel traf Gauck auf dem Fest mit einer Gruppe von Flüchtlingen unter anderem aus Afghanistan zusammen.
Der Ansturm von Flüchtlingen auf der sogenannten Balkanroute hält unterdessen unvermindert an. In Mazedonien trafen binnen zwölf Stunden 7600 Flüchtlinge aus Griechenland ein. In Österreich wurden seit Montag 16.000 Flüchtlinge registriert. Die meisten von ihnen sind auf dem Weg nach Deutschland. Ungarn verzeichnete am Donnerstag nach eigenen Angaben eine Rekordzahl von 3601 Grenzübertritten. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) kamen seit Jahresbeginn mehr als 430.000 Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. 310.000 von ihnen trafen demnach in Griechenland ein, mehr als 120.000 in Italien.
wl/stu (dpa, afp, rtr)