Flüchtlingslotterie innerhalb Europas
30. September 2015DW: Herr Oltmer, wissen wir, ob die Flüchtlinge überhaupt verteilt werden wollen?
Oltmer: Nein, das ist aber in dieser ganzen Diskussion auch nie die Frage gewesen. Der Beschluss lautet: Die Flüchtlinge sollen verteilt und ganz konkrete Stellen dafür eingerichtet werden, die registrieren, wer für diese Verteilung in Frage kommt. Dabei soll darauf geachtet werden, inwieweit die Flüchtlinge in bestimmten EU-Ländern verwandtschaftliche Beziehungen, berufliche Qualifikationen, Sprachkenntnisse und kulturelle Bezügen haben. Das heißt aber nicht, dass die Flüchtlinge selbst entscheiden können, wohin sie gehen, sondern die Staaten schauen auf diese Kriterien und entscheiden, wen sie aufnehmen wollen.
Es ist zu erwarten, dass Flüchtlinge ungern in Ländern wollen, die als fremdenfeindlich gelten oder arm sind. Falls kein Schutzsuchender nach z.B. Rumänien will, könnte man sie trotzdem zwingen?
Ja, Flüchtlinge bzw. Asylbewerber genießen in der EU keine Freizügigkeit. Sie sind nach den Regelungen von Schengen und Dublin an einen Staat gebunden, und auch dieser Beschluss sagt ganz explizit: Die Flüchtlinge, die in einen bestimmten Staat geschickt werden, sind an diesen gebunden. Falls sie z.B. nach Rumänien geschickt werden und es wieder verlassen, werden sie dorthin zurückgeschickt. Für wie lange sie gebunden sind, ist nicht geregelt worden. Ob für ein Jahr, für fünf, oder ob es sich danach bemisst, inwieweit sie möglicherweise irgendwann dann einen anderen Aufenthaltsstatus bekommen, das bleibt völlig unklar. Offensichtlich liegt es beim jeweiligen Staat, den Flüchtlingen die Rechte zuzuweisen, in andere Länder reisen zu dürfen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Lettland. Der Staat hat sich nur zähneknirschend bereiterklärt, gut 750 Flüchtlinge aufzunehmen. Die Politiker wollen nur diejenigen aufnehmen, die selbst dorthin wollen. Im Sinne der verwandtschaftlichen Netzwerke ist aber das Land sicher unattraktiv, auch die Wirtschaft dort ist relativ schwach. Was ist zu erwarten? Kommt am Ende vielleicht niemand freiwillig?
Da die Flüchtlinge nicht darüber zu bestimmten haben, ob sie kommen oder nicht, kann von Seiten der EU durchgesetzt werden, dass diese 750 Menschen zugewiesen werden. Sie sind dort an das Recht des Landes gebunden und dürfen die Staatsgrenzen nicht überschreiten. Natürlich haben wir in diesem Kontext gesehen, dass diverse Staaten in diese Quoten überhaupt nicht einwilligen wollten und dass die Standards mit Blick auf die Aufnahme in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich sind. Es ist zu erwarten, dass die Menschen, die irgendwo zugewiesen werden, mit dieser Zuweisung unzufrieden sein werden. Das ist eine Art Lotterie. Einige werden am Ende sagen: Ich habe Glück gehabt, ich bin in einen Staat gekommen, der relativ gute Bedingungen bietet. Andere werden dies nicht sagen können. Es wird durchaus einige Konflikte in den nächsten Monaten im Zusammenhang mit diesem Verteilungsmodus geben. Wir sehen ja auch, dass die Flüchtlinge zum Teil Anordnungen der jeweiligen Staaten nicht befolgt haben. Sie sind einfach weitergezogen und haben massiv protestiert. Möglicherweise kann auch dieser Verteilungsmodus am Ende zu solchen Auseinandersetzung führen, die den ganzen Verteilungsmechanismus in Frage stellen.
In manchen osteuropäischen Ländern wollen die Politiker nur die "besten" Flüchtlinge aufnehmen. Aber am Ende wird es vielleicht so sein, dass diese Länder dabei im Wettbewerb mit andern stehen.
Ja, aber man darf nicht vergessen, dass es tatsächlich um Leute geht, die schutzbedürftig sind. Sie sind nach Europa gekommen, weil sie Schutz suchen. Es gibt auch viele Flüchtlinge, die keine Bezüge zu bestimmten europäischen Staaten haben. Sie werden dann einfach froh und dankbar sein, in Europa Schutz genießen zu können. Wenn die Politik in den einzelnen Staaten versucht, sowohl Flüchtlinge anzuwerben, als auch für eine positive Aufnahme in der Bevölkerung zu sorgen, dann sehe ich gute Voraussetzungen dafür, dass der Mechanismus funktioniert. Wenn aber in vielen Staaten von Beginn an die Regierungen Widerstand leisten und kein Interesse zeigen, dann wird es nicht funktionieren.
Jochen Oltmer ist Professor für Neueste Geschichte am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.