Mit allen Wassern gewaschen
16. Juli 2019"Genieß‘ dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig." Diesen Spruch hast sich Florian Wellbrock auf die Haut tätowieren lassen. Nicht schamhaft versteckt auf dem Rücken, sondern gut sichtbar vorne, unterhalb der Schulter. Schon früh hat er in seiner Familie erleben müssen, wie plötzlich und unerwartet das Leben enden kann. Im Dezember 2006 starb seine 13 Jahre alte Schwester Franziska aus ungeklärter Ursache - kurz vor einem Schwimmwettkampf. Wellbrock war damals neun Jahre alt, sein Schwimmtalent bereits entdeckt. Nach dem Schicksalsschlag wechselte er 2007 an dieselbe Sportschule in Bremen, die auch seine Schwester besucht hatte. Zwölf Jahre später ist Florian Wellbrock Schwimmweltmeister. Bei der WM in Gwanju in Südkorea gewann der 21-Jährige am Dienstag Gold im Freiwasser-Schwimmen über zehn Kilometer.
Tokio 2020 im Visier
Nach sechs Jahren Durststrecke hat Deutschland wieder einen Freiwasser-Schwimmweltmeister. "Er ist ein super Schwimmer und hat alle Möglichkeiten, auch in Tokio Gold zu gewinnen", sagt der zwölfmalige Weltmeister im Freiwasser-Schwimmen, Thomas Lurz, über seinen Nachfolger, der die Olympische Spiele 2020 in der japanischen Hauptstadt fest im Blick hat - und das nicht erst seit seinem Gold-Coup bei der WM: "Wir hatten im Trainingslager eine Flagge von Tokio mit den Olympischen Ringen im Zimmer hängen. Das stimmt einen mental schon mal ein bisschen drauf ein", sagt Florian Wellbrock.
Mit "wir" meint er sich und seinen Zimmergenossen Rob Muffels, der hinter dem Franzosen Marc-Antoine Oliver WM-Bronze gewann und sich damit wie Wellbrock ebenfalls das Olympiaticket sicherte. Die ersten zehn des WM-Rennens sind für Tokio qualifiziert.
Zwei Paar Schuhe
Für Wellbrock sind die Titelkämpfe in Südkorea noch nicht vorbei. Er wird auch im Becken starten - wie schon 2018, als er bei den Europameisterschaften in Glasgow jeweils in deutscher Rekordzeit Gold über 1500 Meter und Bronze über 800 Meter Freistil holte und anschließend mit dem deutschen Freiwasser-Mixed-Team Silber gewann. "Für mich sind das zwei komplett verschiedene Paar Schuhe", sagte Wellbrock nach seinem WM-Coup. "Wenn man sich auf die Leine setzen kann bei 1500 und die ganze Halle tobt, ist das ein ganz anderes Gefühl, als hier zu stehen. Das kann man nicht miteinander vergleichen."
Fifty-fifty
Dass Leistungsschwimmer sowohl im Freiwasser als auch im Becken erfolgreich sind, ist äußerst selten. Der Regelfall sind eher Spezialisten für das eine oder das andere. Zu unterschiedlich sind die Bedingungen. "Eigentlich klappt das mit dem Doppelstart bei kaum jemandem", sagte Ex-Bundestrainer Henning Lambertz noch bei der EM 2018. Bernd Berkhahn, Teamchef des DSV in Gwangju, sieht das lockerer. Vielleicht auch, weil er Wellbrock kennt. Am Olympia-Stützpunkt in Magdeburg trainiert Berkhahn den 1,70 Meter großen und 70 Kilogramm schweren Ausnahmeschwimmer, dessen Leistungen seit 2018 förmlich explodiert sind, sowohl im naturbelassenen als auch im gechlorten Wasser. "Freiwasser ist immer mehr im Kommen. Es wird immer schneller und professioneller", sagt Wellbrock. "Momentan ist der Hype noch mehr im Beckenschwimmen, aber für mich persönlich ist es fifty-fifty."
Gemeinsame Vorliebe für lange Strecken
Das würde seine Freundin unterschreiben. Seit zwei Jahren ist Wellbrock mit der Freistilschwimmerin Sarah Köhler zusammen. Auch die 25-Jährige hat bei der EM 2018 in Glasgow Medaillen in beiden Bereichen gewonnen: im Becken Silber und Bronze, im Freiwasser Silber mit dem Mixed-Team, dessen Schlussschwimmer Wellbrock war. Dass sie beide die gleiche Vorliebe für die langen Strecken haben, helfe ungemein, sagte Wellbrock der Zeitung "Die Welt": Es sei wertvoll, "jemanden an der Seite zu haben, der das Gleiche durchmacht und zu 100 Prozent für alles Verständnis hat, der dich voll unterstützt." Gemeinsam wollen sie im nächsten Jahr die Olympischen Spiele von Tokio rocken.
Aus dem Scheitern in Rio gelernt
Da dort der 10-Kilometer-Wettbewerb im Freiwasser erst nach Abschluss der Beckenwettbewerbe angesetzt ist, steht einem Doppelstart Wellbrocks nichts im Wege. In Tokio wird die Welt höchstwahrscheinlich einen anderen Florian Wellbrock erleben als bei seinem Olympiadebüt 2016 in Rio de Janeiro: Über 800 Meter scheiterte er an seiner Nervosität und schied als Letzter seines Vorlaufs aus. Das sei "die einzige und wichtigste Niederlage für mich" gewesen, sagte Wellbrock später. Er hat seine Lektion gelernt.