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Politik

Flucht aus Ägypten

29. September 2016

Ägypten wird für immer mehr Flüchtlinge zu einem zentralen Transitland auf der Mittelmeerroute. Offenbar verlassen auch immer mehr Ägypter das Land. Nun plant die EU ein Flüchtlingsabkommen mit der Regierung Al-Sisi.

Ägypten - Sanitäter Bergen Körper nach Schiffsunglück nahe Rosetta
Bild: Getty Images/AFP/M. El Shahed

Drei Tage lag das Boot schon am Meeresgrund, da erst trat der ägyptische Präsident Abdel Fattah Al-Sisi an die Öffentlichkeit. Mitte vergangener Woche waren über 200 Menschen ertrunken, zusammengepfercht auf einem Flüchtlingsboot, das allenfalls die Hälfte der insgesamt über 400 Passagiere hätte transportieren können. Wieder und wieder hatten Menschenschmuggler von verschiedenen Orten der ägyptischen Küste aus Flüchtlinge auf das Boot gebracht - so viele, dass es bereits nach wenigen Kilometern sank. Das ägyptische Militär konnte 163 Personen retten. Doch die im Inneren des Bootes eingeschlossenen Menschen wurden in die Tiefe gerissen.

Für eine solche Tragödie könne es keine Entschuldigung geben, erklärte Al-Sisi am Samstag bei seiner Rede zum Start eines sozialen Wohnungsbauprojekts nahe der Stadt Alexandria. Es soll 1600 Familien Obdach bieten, überwiegend aus den Elendsquartieren der Stadt. "Ägypten", sagte Al-Sisi an seine Landsleute gerichtet, "darf kein Land der Flüchtlinge sein".

Die Regierung lasse die Bevölkerung nicht allein, erklärte er. Er räumte ein, dass auch Ägypter der schwierigen Lage in ihrem Land durch Flucht nach Europa zu entkommen suchen. "Warum verlasst ihr euer Land?", fragte er. "Gibt es keine Arbeitsmöglichkeiten? Doch, es gibt sie." Wo genau die Arbeitsplätze zu finden seien, ließ Al-Sisi offen: Derzeit liegt die Arbeitslosigkeit - offiziell - bei 13 Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit beläuft sich auf 40 Prozent.

Flucht über Ägypten: ein syrischer Junge in einer Unterkunft am Stadtrand von KairoBild: DW/N. Conrad

Für diejenigen, die sich mit Fluchtgedanken tragen, hatte er eine deutliche Botschaft. Sie müssten wissen, wandte er sich an seine Landsleute, dass der Staat gegen all jene, die das Land illegal verlassen wollten, entschieden vorgehen werde. "Sie müssen aber auch wissen", fuhr er fort, "dass wir daran arbeiten müssen, die Wirklichkeit, in der wir leben, zu verändern".

Kritik an Menschenrechtslage

Dass das absehbar gelingt, scheint fraglich, und zwar nicht nur aufgrund der wirtschaftlichen, sondern auch der politischen Situation. Die den ägyptischen Muslimbrüdern nahestehende Webseite "Middle East Monitor" erhebt schwere Vorwürfe gegen die Regierung Al-Sisi. Sie verletzte Menschenrechte auf eine Weise, die immer mehr Ägypter zur Flucht zwänge: "Al-Sisis brutale Unterdrückung der Meinungsfreiheit, das immer häufiger zu beobachtende Phänomen "verschwundener" Personen, Folter und sexueller Missbrauch haben sehr dazu beigetragen, dass Ägypten zu den ersten zehn Ländern gehört, deren Bürger auf der Suche nach einem besseren Leben das Mittelmeer überqueren."

Auch Amnesty International wirft Ägypten schwere Menschenrechtsverletzungen vor. "Regierungskritiker, führende Vertreter der Opposition und politische Aktivisten wurden festgenommen und inhaftiert, einige von ihnen wurden Opfer des Verschwindenlassens", heißt es im Jahresbericht 2016.

Flüchtlinge aus Afrika und Nahost

Auf internationaler Bühne brachte Al-Sisi zuletzt eine dramatische Zahl ins Gespräch. Sein Land beherberge derzeit rund fünf Millionen Flüchtlinge aus afrikanischen und arabischen Ländern, hatte er Anfang September bei einem Treffen mit Abgeordneten des italienischen Senats erklärt. Diese Menschen, versicherte er, erhielten dieselbe Gesundheitsfürsorge und Bildung wie die ägyptischen Staatsbürger - und zwar ungeachtet der wirtschaftlichen Lage des Landes.

Von Menschenrechtlern kritisiert: Präsident Al-SisiBild: picture-alliance/dpa/von Jutrczenka

Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) präsentiert dagegen andere Zahlen. Im vergangenen Jahr registrierte es rund 250.000 Flüchtlinge in Ägypten; derzeit sollen es gut 187.000 sein. Die meisten von ihnen - rund 117.000 - stammen aus Syrien.

Gewalt gegen Flüchtlinge

Von der Situation der Flüchtlinge zeichnet die ägyptische Stiftung zur Unterstützung der Flüchtlinge ("Egyptian Foundation for Refugee Rights") ein düsteres Bild. Die politische Unruhe im Land habe dazu beigetragen, die Fremdenfeindlichkeit anwachsen zu lassen. Die Gewalt gegen Flüchtlinge habe zugenommen. Auch die Zahl willkürlicher Verhaftungen sei gestiegen.

Zugleich sei die Polizei immer weniger gewillt, Verbrechen nachzugehen, die sich gegen Flüchtlinge gerichtet hätten. "Der Zugang zur Justiz bleibt ein Problem", schreibt die Stiftung auf ihrer Webseite. Weil sie oftmals keine Papiere hätten, ethnischen oder religiösen Minderheiten angehörten, die Sprache nicht beherrschten und ökonomisch verwundbar seien, seien Flüchtlinge der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen in besonderem Maß ausgesetzt.

Gefährliche Route: Unter den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer sind immer mehr Kinder und JugendlicheBild: Getty Images/AFP/D. Azzaro

Das UNHCR spricht für die erste Jahreshälfte 2016 von rund 115.000 Personen, die nach der Flucht über das Mittelmeer in Italien registriert wurden. Das sind rund tausend Menschen weniger als im Vorjahr. Gestiegen sei allerdings die Zahl jener, die von Ägypten aus aufgebrochen seien. Stellte diese Gruppe im vergangenen Jahr noch fünf Prozent der Flüchtlinge, stieg ihre Zahl dem UNHCR zufolge im laufenden Jahr auf bislang neun Prozent an.

EU plant Flüchtlingsabkommen mit Ägypten

Die Europäische Union plant nun offenbar, nach dem Vorbild des mit der Türkei geschlossenen Flüchtlingsabkommens auch eine entsprechende Vereinbarung mit Ägypten zu treffen. Damit solle dem Umstand Rechnung getragen werden, dass immer mehr Flüchtlinge von Nordafrika aus die Flucht über das Mittelmeer wagen, sagte EU-Parlamentspräsident Martin Schulz gegenüber der "Süddeutschen Zeitung": "Diesen Weg müssen wir einschlagen."

Das Abkommen sehe aber auch vor, langfristig die Fluchtgründe zu beseitigen. "Unser Ziel muss sein, Staaten wie Ägypten oder insbesondere auch Tunesien und in wenigen Jahren auch Libyen zu stabilisieren und Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten", erklärt der Außen- und Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) im DW-Interview. "Dies geschieht, indem wir duale Ausbildung anbieten oder strukturierte Tagesabläufe etablieren und Minimalmaßnahmen wie sauberes Wasser oder Gesundheitsvorsorge und gute Ernährung anbieten." Auch über Menschenrechte soll gesprochen werden. Das unterstrich auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Die Kooperation, sagte er, müsse "umfassend sein".

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
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