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Politik

Wie Russen nach Kasachstan fliehen

Madiya Torebayeva
27. September 2022

Wegen der Teilmobilmachung verlassen Russen ihr Land in alle Richtungen. DW-Reporterin Madiya Torebayeva hat in Kasachstan vor allem meist junge Menschen angetroffen. Worauf hoffen sie in dem zentralasiatischen Land?

In der Nacht stehen Schlangen aus mehreren Dutzend Menschen und Autos nebeneinander, die Autoschlange reicht bis ans obere Bildende
Warteschlangen an der russisch-kasachischen GrenzeBild: DW

Es sind kilometerlange Schlangen. Sie bilden sich auf der russischen Seite der Grenze zu Kasachstan, vor allem an den Übergängen, die zu den kasachischen Städten Petropawlowsk und Uralsk führen. Insgesamt gibt es an der mehr als 7500 Kilometer langen russisch-kasachischen Grenze 51 Kontrollpunkte. Seit dem 21. September, an dem Russlands Präsident Wladimir Putin die "Teilmobilmachung" für den Krieg gegen die Ukraine angeordnet hat, kommen hier vor allem junge Menschen an. Wer den Übergang Syrym Richtung Uralsk, ganz im Westen Kasachstans, passiert hat, zeigt auf seinem Smartphone bereitwillig Fotos und Videos. Auf ihnen ist zu sehen, was auf der anderen, der russischen Seite der Grenze passiert.

Zwei Männer, geschätzt 40 und 18 Jahre alt, sind müde vom langen Warten. Doch sie sind froh, die Grenze endlich passiert zu haben. Aufgeregt erzählen sie, was sie nachts erlebt haben. "Es sind sehr viele Menschen, 500 bis 600 Autos. Sofort nach der angeordneten Mobilmachung waren alle Flugtickets ausverkauft, trotz stark gestiegener Preise - von 100.000 auf 300.000 Rubel (ca. 1800 auf 5400 Euro, d. R.) nur Hinflug", erzählen die beiden Männer, während sie auf Freunde warten, die sich noch auf der anderen Seite des Grenzübergangs befinden. Sie alle fahren zum ersten Mal nach Uralsk. Von dort wollen sie weiter nach Europa, einige haben dort Verwandte, manche sogar ein Schengen-Visum, mit dem sie in die meisten europäischen Länder einreisen dürfen.

Warum wollen die Russen weg?

Igor aus dem 200 Kilometer entfernten Samara ist Programmierer. Über die Grenze nach Kasachstan kam er zu Fuß. Er spricht offen darüber, dass er daheim eine Frau und zwei Kinder zurückgelassen hat. Um in das zentralasiatische Land zu gelangen, habe er zwölf Stunden angestanden.

Igor, ein Programmierer aus Samara, will nicht in den Krieg ziehen, dafür hat er seine Familie in Russland zurückgelassenBild: DW

"Ich fahre nach Uralsk, um dem zu entkommen, was mir in meiner Heimatstadt droht. Meine Bekannten haben bereits eine Einberufung erhalten, ich noch nicht. Ich will nicht kämpfen, ich will nicht töten und ich will auch nicht getötet werden", sagt Igor über seine Angst vor einem Kriegseinsatz. Auf die Frage, ob er das Vorgehen des Kremls gegen die Ukraine unterstütze, will sich Igor aber nicht äußern. Nun will er von Uralsk aus arbeiten und die Lage in Russland beobachten. "Ich werde wieder zurückfahren, wenn sich die Situation ändert", sagt er und geht zu einem Taxi.

Sanija, eine junge Frau aus Kasan an der mittleren Wolga war noch nie in Kasachstan. Sie erzählt, sie habe sich zusammen mit ihrem Freund auf den Weg gemacht. Sie wollen Verwandte ihres Freundes einholen, die einen Tag früher losgefahren sind und nur drei Stunden an der Grenze warten mussten.

Sanija aus Kasan begleitet ihren Freund auf der Flucht vor der EinberufungBild: DW

"Wir wollen auf Nummer sicher gehen. Wir sind wegen der Mobilmachung weggefahren. Noch betrifft sie uns nicht persönlich, weil mein Freund Student ist. Sobald sich alles beruhigt, fahren wir zurück, aber vorerst bleiben wir hier. Wir sind insgesamt sieben Personen, wir sind alle jung. Über die Politik des Kremls reden wir aber nicht", sagt Sanija.

Umzug nach Kasachstan?

Vor einem Hotel in Almaty, der größten Metropole und ehemaligen Hauptstadt Kasachstans, hält am frühen Morgen ein Taxi. Auch dort, tief im Südosten des riesigen Landes sind es junge Russen im Alter von 20 bis 25 Jahren, die schnell aussteigen, ihre Koffer packen, den Fahrer bezahlen und zum Hotel eilen. Auf die Frage, woher sie kommen, antworten die vier Männer nur ungern. Unter der Bedingung, dass weder Ton-Aufnahmen, noch Fotos oder Videos gemacht werden, erklären sie sich schließlich bereit, von sich zu erzählen. Einer der jungen Männer sagt:

"Wir sind gerade angekommen."

DW: Sind Sie wegen der Teilmobilmachung in Russland hierhergekommen?

"Ja"

Wie heißen sie?

"Nikolaj"

Warum sind Sie ausgerechnet nach Kasachstan gefahren?

"Das war bequemer."

Wie sind Sie hierhergekommen? Die Flugtickets sind mittlerweile sehr teuer.

"Mit dem Bus nach Tscheljabinsk (eine russische Großstadt im Südosten des Ural, d. R.) und von dort mit dem Auto bis zur Grenze. Ich habe sie legal überquert. Dann bin ich mit einem Taxi bis nach Petropawlowsk (Nordkasachstan, d.R.) gefahren und von dort weiter fast den ganzen Tag mit dem Zug."

Nicht alle wollen bleiben

Nach Nikolaj trauen sich auch die anderen jungen Männer von sich zu erzählen. Einer kommt aus Tula, 200 Kilometer südlich von Moskau, die anderen beiden aus der Hauptstadt selbst. Sie alle sind im IT-Bereich tätig und können mobil arbeiten. Zwei von ihnen haben sogar ein eigenes Unternehmen. Auf die Frage, ob sie in Kasachstan bleiben wollen, sagt einer: "Ich weiß es nicht. Wir werden die politische Lage beobachten. Nicht, dass die Grenze plötzlich dicht gemacht wird, ich habe ja Familie zu Hause." Ein anderer sagt, er wisse noch nicht, wie es mit einer Aufenthaltserlaubnis aussehe, aber er wolle mit einem Freund in Kasachstan eine Firma anmelden.

Auch die kasachische Metropole Almaty im Südosten Kasachstans ist Ziel junger RussenBild: Anatolij Weißkopf/DW

Derzeit gibt es in Kasachstan viele junge Menschen aus Russland. Manche kommen mit ihren Familien, andere alleine. Aber nicht alle wollen bleiben. "Ich habe auf Telegram gesehen, dass Kirgisistan und Usbekistan Projekte für IT-Leute gestartet haben, so etwas wie Technologieparks. Es gibt verschiedene Unterstützungsprogramme. Vielleicht fahre ich dorthin", sagt plötzlich einer der jungen Männer vor dem Hotel.

Die sozialen Netzwerke sind heute voller Jobangebote sowie Tipps für eine Existenzgründung oder Aufenthaltserlaubnis. Viele Russen diskutieren diese Themen auf zahlreichen Telegram-Kanälen. Andere versuchen, über eine Heirat in Kasachstan zu bleiben. Fast alle beschäftigen sich jetzt in erster Linie mit der Suche nach Arbeit. "Ich würde gerne nach Kasachstan umziehen, doch ich mache mir Sorgen, dass ich keinen Job finde und dann nicht bleiben darf. Ich bin noch Student und will Programmierer werden", schreibt ein User, der sich Iwan Frolow nennt.

Droht eine Abschiebung?

Die meisten Russen, die nach Kasachstan kommen, sind jung. Sie würden unter die zweite und dritte Welle der Mobilmachung in Russland fallen. Manche von ihnen befürchten, die russische Regierung könnte ein Gesetz beschließen, das die Fahndung nach Personen vorsieht, die zum Dienst in der Armee einberufen werden sollen. Für sie stellt sich die Frage, ob die kasachischen Behörden sie in diesem Fall nach Russland abschieben würden.

Grenzübergang zwischen Russland und Kasachstan in Weite der kasachischen SteppeBild: DW

Die kasachischen Gesetze sehen keine Abschiebung von Ausländern im Zusammenhang mit einer Mobilmachung in einem anderen Staat vor. Artikel 28 des Gesetzes "Über die Rechtsstellung von Ausländern" erklärt, dass ausländische Staatsbürger aus Kasachstan ausgewiesen werden können, wenn sie nicht genehmigte Kundgebungen und Märsche organisieren oder daran teilnehmen, den Behörden bei der Vorlage von Dokumenten zur Erlangung einer Aufenthaltserlaubnis oder Staatsbürgerschaft falsche Angaben machen, die Ordnung beim Grenzübertritt verletzen oder gegen die Migrationsgesetze verstoßen.

Wie lange dürfen sie bleiben?

Nach Angaben des kasachischen Innenministeriums sind seit Januar 2022 1,66 Millionen russische Staatsbürger in das zentralasiatische Land eingereist und 1,64 Millionen wieder ausgereist. 3200, also 0,2 Prozent von ihnen wurden wegen Verstößen gegen die Migrationsgesetze zur Verantwortung gezogen, was eine Ausweisung nach sich ziehen kann.

Derzeit befinden sich demnach 20.000 russische Staatsbürger in Kasachstan. Die kasachischen Behörden versichern, dass alle Ausländer bei der Einreise vollständig registriert werden. Das kasachische Außenministerium weist darauf hin, dass ausländische Staatsbürger kein Recht auf einen unbefristeten Aufenthalt haben. Auch Bürger der Staaten der Zollunion, die aus Russland, Belarus, Armenien, Kasachstan und Kirgisistan besteht, müssen sich innerhalb von 30 Tagen bei der Migrationspolizei melden. Die Dauer des Aufenthalts darf ab dem Tag der Einreise 90 Tage nicht überschreiten.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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