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Flucht übers Mittelmeer - Seenotretter unter Druck

5. Mai 2025

Vor mehr als zehn Jahren begannen humanitäre Organisationen, Geflüchtete auf dem Mittelmeer zu retten. Bis heute fühlen sie sich von der Politik im Stich gelassen - und fordern ein europäisches Seenotrettungsprogramm.

Rettungsboot mit Helfern mit gelben Helmen neben einem Flüchtlingsboot - ein Helfer übernimmt ein kleines Kind
Seit zehn Jahren rettet die deutsche Hilfsorganisation SOS Humanity Geflüchtete im MittelmeerBild: Pietro Bertora

"Wir sind nicht zuständig" - diesen Satz hört Marie Michel an Bord des Rettungsschiffs SOS Humanity, als sie Anfang Mai die italienische Rettungsleitstelle anfunkt. Es ist der Satz, der ziemlich gut zusammenfasst, wie die Europäische Union die Verantwortung, Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten, seit mehr als zehn Jahren sukzessive an zivile Organisationen ausgelagert hat. Auf einer Pressekonferenz der gleichnamigen Seenotrettungsorganisation zu ihrem zehnjährigen Bestehen meldet sich Michel live vom Schiff.

"Wir haben 68 Menschen aus zwei seeuntauglichen Booten in der Nacht auf den 1. Mai gerettet. Beide Boote befanden sich zu dem Zeitpunkt in der libyschen Such- und Rettungszone, aber die libysche Rettungsleitstelle hat keine dieser Rettungen koordiniert." 

Seit dem Jahr 2014 sind knapp 32.000 Geflüchtete im Mittelmeer ertrunken, in diesem Jahr sind es allein schon um die 500.

Abkommen der EU über Hunderte Millionen Euro mit Libyen 2017 und Tunesien 2023 sollten die Flucht und die vielen Toten auf dem Mittelmeer reduzieren, die Küstenwachen beider Länder den Grenzschutz übernehmen. Doch die Kooperationen stehen massiv in der Kritik, die Geschichten über gravierende Menschenrechtsverletzungen reißen nicht ab. Marie Michel hat sie gerade wieder von vielen Geflüchteten gehört.

"Viele der Überlebenden, die in den letzten fünf Tage bei uns an Bord waren und alle aus Libyen geflohen sind, haben Folterspuren an ihren Körpern und berichten, was Folter in Libyen eigentlich bedeutet: Erniedrigungen, erzwungenes Ausziehen von Kleidung und anschließende Überschüttung mit eiskaltem Wasser, Schläge mit Holzstöcken, Metallstangen und Plastikschläuchen, Anwendung von Pistolenschüssen und Vergewaltigung." 

"Wenn die Politiker Europas nicht für unsere tiefsten humanitären Werte einstehen, müssen wir es tun" - SOS Humanity im EinsatzBild: Judith_Buethe

Erschütternder Bericht über Menschenrechtsverletzungen

Die private Hilfsorganisation SOS Humanity, die am 4. Mai 2015 von vier Familien in einer Wohnung in Berlin gegründet wurde und seitdem nach eigenen Angaben mehr als 38.000 flüchtende Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute von Nordafrika nach Italien aus Seenot gerettet hat, legt jetzt einen erschütternden Bericht über die Situation in Libyen, Tunesien und dem Mittelmeer vor. 64 Überlebende erzählen darin von ihren Erfahrungen auf der Flucht. Dort heißt es unter anderem:

"Drei junge Männer sprangen wegen der schweren Schläge, die sie erleiden mussten, ins Meer. Die libysche Küstenwache ließ sie vor unseren Augen sterben und beschimpfte sie sogar, während sie ertranken. Sie sagten zueinander: 'Lasst sie sterben, das ist leichter für uns und für sie.‘"

SOS Humanity fordert europäisches Seenotrettungsprogramm

Das Jubiläum von SOS Humanity fällt zufälligerweise mit dem Antritt von Friedrich Merz als Bundeskanzler zusammen. Die Hilfsorganisation kritisiert, dass die neue Regierung den Begriff Seenotrettung mit keiner Silbe in ihrem Koalitionsvertrag erwähne.

Pressekonferenz von SOS Humanity zum zehnjährigen Bestehen der Hilfsorganisation mit Gründer Klaus Vogel (Zweiter von links)Bild: Laurin Schmid

Ihre Forderungen an die Politik: endlich ein europäisches Seenotrettungsprogramm aufzusetzen und darauf zu drängen, die Kooperationsabkommen mit Libyen und Tunesien zu beenden. Das bittere Fazit von SOS Humanity-Gründer Klaus Vogel:

"Unsere erste Rettung am 7. März 2016 waren 74 erschöpfte, verletzte und verzweifelte Männer und Frauen in einem kleinen ungeschützten Schlauchboot weit vor der Küste Libyens. Aber unsere Erwartung, die europäischen Regierungen dazu zu bringen, Flüchtende als Mitmenschen zu begreifen und die Rettung von Flüchtenden im Mittelmeer als selbstverständliche Pflicht Europas anzuerkennen, hat sich nicht erfüllt."

Union sieht Gefahr, dass Schleuserbanden profitieren

Doch wie sich die Unionsparteien CDU und CSU und ihr Koalitionspartner SPD bei der Seenotrettung positionieren werden, ist offen. Dass die Bundesregierung private Seenotretter mit zwei Millionen Euro pro Jahr bis 2026 finanziert, um Flüchtlinge in Seenot auf dem  Mittelmeer zu retten, hatte schon in der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP für heftigen Streit gesorgt.

Wie die FDP sieht auch die Union diese Unterstützung kritisch. Der künftige Außenminister Johann Wadephul fürchtet, die Rettungsorganisationen könnten - wenn auch ungewollt - das Geschäft der Schleuserbanden unterstützen. CDU-Politikerin Lena Düpont, seit 2019 Mitglied im Europäischen Parlament, schreibt der DW auf Anfrage, wer in Seenot gerate, müsse ohne Bedingung gerettet werden:

"Die Grenze zwischen humanitärer Hilfe und Beihilfe zur illegalen Migration ist mitunter schmal" - Lena DüpontBild: Privat

"Gleichzeitig darf das humanitäre Gebot der Seenotrettung nicht zum Einfallstor für Schleuserkriminalität werden. Die Erfahrung zeigt, dass Schlepper die Präsenz privater Rettungsschiffe gezielt ausnutzen, um Menschen auf seeuntauglichen Booten in Lebensgefahr zu bringen."

"Tödlichste Grenze der Welt"

Wenn jemand weiß, wie das Ertrinken von Geflüchteten im Mittelmeer gestoppt werden kann, dann ist das Gerald Knaus. Der österreichische Migrationsexperte ist Mitgründer und Vorsitzender der Denkfabrik Europäische Stabilitätsinitiative. Außerdem ist er der Architekt für das Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei 2016.

Der Deal: sechs Milliarden Euro Hilfsgelder für Ankara, im Gegenzug riegelt die Türkei die Schleuserroute durchs Mittelmeer ab und verpflichtet sich, Flüchtlinge zurückzunehmen. Die Zahl der Toten in der Ägäis sei dadurch von 1100 in einem Jahr auf 80 gefallen, so der Sozialwissenschaftler. Er sagt der DW:

"Aktuell gibt es leider keine Initiative irgendeiner europäischen Regierung für das zentrale Mittelmeer" - Gerald KnausBild: Privat

"Wir haben eine Situation seit jetzt über zehn Jahren in Europa, in der es zwar immer wieder Krisengipfel der europäischen Regierungen gab, aber es nicht gelungen ist, das Sterben zu beenden. Die tödlichste Grenze der Welt bleibt die tödlichste Grenze der Welt. Und das ständige Sterben ist Ausdruck eines kompletten systematischen Versagens."

Abkommen mit Großbritannien als Testballon?

Knaus kann die Frustration vieler Seenotretter, dass die Politik das Problem auf private Initiativen abwälzt, gut verstehen. Er sieht in der Seenotrettung eine moralische und rechtliche Verpflichtung, weil ansonsten Menschen ertrinken. Es brauche aber gleichzeitig eine Politik, die dazu führe, dass sich viel weniger Menschen in die Boote setzen. Die neue deutsche Regierung könnte da einen Anfang machen, etwa mit einer Initiative im Ärmelkanal.

"Sie müsste sagen, liebe Briten, wir nehmen ab dem 1. Juni jeden zurück, der von der EU mit dem Boot unter Lebensgefahr nach Großbritannien fährt. Das würde dazu führen, dass die irreguläre Migration schnell aufhört und niemand mehr stirbt." Dann könnte Deutschland im nächsten Schritt ähnliche Abkommen mit sicheren Drittstatten schließen "Und nicht etwa mit Tunesien und Libyen, welche die Menschenrechte nicht achten. Wenn es im Ärmelkanal nicht gelingt, wird es im Mittelmeer natürlich noch viel schwieriger."

Druck auf die EU wächst durch Donald Trump

Der Deal mit den Drittstaaten vor allem aus Afrika könnte laut Gerald Knaus so aussehen: Fünf-Jahres-Visum für die Staatsbürger, die legal einreisen. Verdreifachung der Zahl der Stipendien. Einige Hundert Millionen Euro für die Armutsbekämpfung. Im Gegenzug verpflichten sich die Länder, ausreisepflichtige Flüchtlinge zurückzunehmen. Das politische Signal wäre: Europa muss nicht rechtsextreme Parteien wählen, um Migration zu kontrollieren.

"Die fatale Botschaft jenseits des Atlantiks ist ja, dass Donald Trump die irreguläre Migration gestoppt hat, die Zahlen sind dramatisch gefallen. Aber er tut dies auf Kosten der Menschenwürde und demoliert den Rechtsstaat. Also ist es jetzt für die Parteien der Mitte und diese Koalition extrem wichtig, dringend eine rechtsstaatliche Lösung zu entwickeln, mit dem nötigen Ernst und ohne Populismus. Und Seenotrettern die Schuld zuzuschieben, ist Populismus und war immer Populismus."