Die Flucht des Dalai Lama
6. März 2009Als die chinesischen Truppen 1950 die tibetische Grenze überschreiten, treffen sie nur auf geringen Widerstand. Die kleine tibetische Armee besitzt kaum moderne Waffen und hat der Volksbefreiungsarmee nichts entgegenzusetzen. Wenige Monate später unterschreibt eine Delegation des Dalai Lama in Peking unter Druck ein Abkommen, das Tibet zu einem Teil Chinas erklärt. Im Gegenzug sichert dieses sogenannte 17-Punkte-Abkommen den Tibetern weitgehende Autonomie nach innen zu. Ihr politisches System soll nicht angetastet werden. Es scheint, als ob sich die Tibeter in ihre „Befreiung" fügen - so nennen die Chinesen offiziell ihren Einmarsch in Tibet. 1954 besucht der Dalai Lama Peking, wo er von der politischen Führung und jubelnden Massen empfangen wird.
Begeisterung für China
Er wird zum stellvertretenden Vorsitzenden des Nationalen Volkskongresses ernannt. Dort hält er auch eine enthusiastische Rede über den Aufbau der tibetischen Selbstverwaltung. "Die "Bedürfnisse jedes einzelnen Volkes wurden berücksichtigt", erklärt er unter dem Applaus der Delegierten. Mehrmals trifft er mit Mao Tsetung zusammen. In seiner Autobiografie erinnert sich der Dalai Lama, dass dieser großen Eindruck auf ihn machte. Eine "richtige Begeisterung für die Möglichkeit einer Vereingung Tibets mit Chinas" habe er damals entwickelt, bekennt er. Und im Marxismus sieht das neunzehnjährige Oberhaupt der Tibeter "ein Gesellschaftssystem, das auf Freiheit und Gerechtigkeit basiert und ein Allheilmittel für alles zu sein scheint." Lediglich die vehemente Abneigung der Marxisten gegenüber der Religion widerstrebt ihm. Doch nach seiner Rückkehr kommen dem Dalai Lama Zweifel am Vorgehen der Chinesen. Immer wieder stellt er fest, dass das chinesische Militär sich nicht an die Absprachen hält. Entgegen der Zusagen versucht es, Einfluss auf die Politik in Lhasa zu nehmen. Gleichzeitig beginnt Peking im Osten der tibetischen Gebiete, in der heutigen Provinz Sichuan, bereits mit der Einführung des Sozialismus.
Volksaufstand und Flucht
Immer stärker gerät auch die Religion ins Visier der Kommunisten. Unter den Tibetern wächst die Wut auf die neuen Herren. Im März 1959 erhält der Dalai Lama eine Einladung ins chinesische Hauptquartier zur Aufführung einer Tanztruppe. Er solle allein kommen heißt es. In Lhasa verbreitet sich das Gerücht, die Chinesen planten seine Entführung. Vor dem Norbulingka-Palast, der Sommerresidenz des Dalai Lama, versammelt sich am 10. März eine Menschenmenge, die ihn schützen will. Die Demonstranten fordern den Abzug der Chinesen. Nach dem Lynchmord an einem hohen Beamten, der der Kollaboration verdächtigt wird, droht die Lage zu eskalieren. Am 16. März werden die wichtigsten Regierungsmitglieder und die Familie des Dalai Lama aus dem Palast geschmuggelt. Der Dalai Lama folgt in der Nacht. Verkleidet in einen Armeemantel verlässt er seine Residenz in Begleitung seiner Leibwache und seinem Oberkämmerer. „Ich hatte große Angst", bekennt er später. Doch dem Oberkämmerer gelingt es, die Menge davon zu überzeugen, dass es sich bei der Gruppe lediglich um eine Patrouille handele, die einen Inspektionsrundgang machen will. Ohne zu ahnen, wen sie vor sich haben, lassen die Demonstranten den Dalai Lama durch. Tags darauf beginnt die chinesische Armee mit dem Beschuss der Palastanlage. Aber der Dalai Lama ist bereits auf dem Weg nach Indien. Einen Monat später erreicht er die indische Stadt Tezpur.
Suche nach Anerkennung
Die Inder erlauben den Tibetern, sich in der Gebirgsstadt Dharamsala einzurichten. Mit der Flucht ins Exil wird die Tibet-Frage zu einer internationalen Angelegenheit. Die UNO verurteilt das Vorgehen der chinesischen Regierung. Zehn Jahre zuvor hatten es die Vereinten Nationen noch abgelehnt, sich mit Tibet zu beschäftigen. Das Land war nie Mitglied einer internationalen Organisation gewesen. Unterstützung finden die Tibeter auch in den USA. Denn die haben sich die Eindämmung des Kommunismus auf die Fahnen geschrieben. Der Gastgeber Indien dagegen bittet den Dalai Lama zunächst um politische Zurückhaltung. 1962 führen Indien und China einen kurzen Grenzkrieg gegeneinander. Daraufhin gibt die indische Regierung ihre Zurückhaltung auf und unterstützt die Exiltibeter nun offen.