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Flucht und Asyl: Wohin steuert Deutschland?

3. September 2024

Das Asylrecht abschaffen, Flüchtlinge an der Grenze zurückweisen - das will die Opposition. Nach den Wahl-Erfolgen der rechtsextremen AfD im Osten schließt sich eine Regierungspartei den Forderungen an.

Eltern gehen mit ihren Kindern zwischen Sichtschutzwänden durch eine Halle
Eine Familie in einer Geflüchtetenunterkunft in Frankfurt am Main (Archivbild)Bild: epd

Es war ein Auftritt voller Frust, den FDP-Chef Christian Lindner am Tag nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen(1. September 2024) hinlegte. "Die Leute haben die Schnauze voll davon, dass dieser Staat möglicherweise die Kontrolle verloren hat bei Einwanderung und Asyl nach Deutschland." 

Schuldzuweisungen und die Hinweise, was rechtlich alles nicht gehe, interessierten niemanden mehr. Die Bürger "wollen eine Lösung sehen", so Lindner, der Bundesfinanzminister in der sogenannten Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP ist. Für die drei Parteien, die in Berlin die Bundesregierung stellen, waren die Wahlen im Osten ein Desaster. Die in beiden Bundesländern als rechtsextrem eingestufte AfD sammelte mehr als doppelt so viele Stimmen ein wie die Ampel-Parteien zusammen.

Mehr als drei Millionen Flüchtlinge leben in Deutschland

Nachwahlbefragungen zeigen, dass Asyl und Migration Hauptthemen bei der Wahlentscheidung waren. Insgesamt lebten in Deutschland Ende 2023 rund 3,2 Millionen Menschen, die als Flüchtlinge ins Land gekommen sind, darunter mehr als eine Million Ukrainer. Die zweitgrößte Gruppe sind Syrer. 

Flüchtlinge in einer ErstaufnahmeeinrichtungBild: Patrick Pleul/dpa/picture alliance

2023 gab es 352.000 neue Asylanträge, für 2024 werden rund 270.000 neue Anträge erwartet. Die meisten Asylanträge werden abgelehnt. Ende 2023 lebten in Deutschland insgesamt nur rund 44.000 anerkannte Asylbewerber. Viel mehr Menschen bekommen vorübergehenden Schutz. Knapp 745.000 Menschen haben einen anerkannten Status nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Weitere knapp 326.000 genießen subsidiären Schutz, etwa, weil in ihrer Heimat Bürgerkrieg herrscht. 

Bei einer halben Million Flüchtlinge laufen aktuell die Verfahren. Laut Bundesinnenministerium halten sich knapp 227.000 ausreisepflichtige Personen in Deutschland auf. Allerdings haben gut 80 Prozent von ihnen eine Duldung, weil es Abschiebe-Hindernisse gibt. 

Bundesregierung will Migrationspolitik verschärfen

Nach dem islamistischen Messerattentat von Solingen, das eine Woche vor den Landtagswahlen von einem ausreisepflichtigen Syrer verübt wurde, hat die Bundesregierung Verschärfungen in der Migrations- und Sicherheitspolitik angekündigt. Dazu gehört, dass Asylbewerber, für die nach den europäischen Dublin-Regeln ein anderes EU-Land zuständig ist, in Deutschland keine finanzielle Unterstützung mehr erhalten sollen. Geplant ist auch, die Rücküberstellungen zu erhöhen.  

Abschiebungen sollen erleichtert werden, auch indem die Schwelle für Straftaten, die zur Ausweisung oder zum Ausschluss eines Asyl- oder Flüchtlingsstatus führen können, gesenkt wird. Migrationsabkommen mit Drittländern außerhalb der EU zur Aufnahme von Flüchtlingen, darunter Moldau, Kenia und die Philippinen, sollen zum Abschluss gebracht werden.

Union stellt Asylrecht in Frage

CDU und CSU, die im Bundestag zusammen die größte Oppositionsfraktion stellen, reicht das nicht aus. Schon vor den Wahlen forderte die Union, das Recht auf Asyl in Deutschland abzuschaffen und Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen. Von dieser Forderung werde man "keinen Millimeter abweichen", betonte CDU-Chef Friedrich Merz nach den Landtagswahlen. "Das eigentliche Problem ist der nach wie vor ungesteuerte Zuwanderungsdruck", so Merz. "Auf fünf Abschiebungen kommen 100 neue Zugänge. Die Ampel muss ihre Politik insbesondere in der Zuwanderung grundsätzlich korrigieren."

Parteiübergreifender Konsens gesucht: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, li.) und CDU-Chef Friedrich Merz im BundestagBild: Hannes P. Albert/dpa/picture alliance

SPD und Grüne lehnen das ab. Solche Vorschläge seien "mit unserer Verfassung nicht vereinbar", sagt die SPD-Vorsitzende Saskia Esken. "Bei allem, was wir tun, bei der Politik, die für Kontrolle und Steuerung sorgt, aber auch die Humanität bewahrt und unsere Verpflichtungen auch bewahrt, werden wir die Verfassung nicht anfassen. Wir werden unsere internationalen und auch unsere europarechtlichen Verpflichtungen nicht brechen."

Neuer Konfliktstoff für die Ampel 

Die FDP sieht das anders. Denkverbote seien fehl am Platz, so FDP-Chef Lindner. Seine Partei sei offen, auch über Änderungen der europäischen Gesetze oder auch des Grundgesetzes zu sprechen, sagte er am Tag nach der Landtagswahl und stellte sich damit offen auf die Seite der oppositionellen Union. 

Wenn "die Parteien des demokratischen Zentrums", bestehend aus CDU, CSU, SPD, Grünen und FDP, nicht in der Lage seien zu liefern, "dann werden die Bürgerinnen und Bürger sich im wahrsten Sinne des Wortes eine Alternative suchen", sagte er mit Anspielung auf die AfD, die Alternative für Deutschland.

Erstes Treffen der Arbeitsgruppe Migration

Eine Mahnung an die parteiübergreifende Arbeitsgruppe von Bund und Bundesländern, die Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach dem Anschlag in Solingen zusammengerufen hatte. Zuvor hatte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz Scholz eine Zusammenarbeit angeboten. Unter der Leitung von SPD-Innenministerin Nancy Faeser und FDP-Justizminister Marco Buschmann gab es an diesem Dienstag (3.9.) ein erstes Treffen der Arbeitsgruppe.  

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bei der Vorstellung der Maßnahmen nach der Messerattacke von SolingenBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Auf dem Tisch liegen die bereits vorgestellten Pläne der Bundesregierung zu Verschärfungen in der Migrations- und Sicherheitspolitik. Darüber hinaus sei man aber offen für Vorschläge der Union und der Länder, um diese miteinander zu beraten, hieß es aus dem Innenministerium. Darauf legt die Union auch größten Wert. "Wenn die Koalition mit uns über die Lösung sprechen will, dann muss auf die Tagesordnung als Thema Nummer Eins die Begrenzung der Zuwanderung und die Begrenzung geht nur mit Zurückweisungen an den deutschen Staatsgrenzen", so CDU-Chef Merz. 

Sicherheit und Ordnung nicht mehr gewährleistet

Längst hat eine Debatte begonnen, ob es rechtlich überhaupt möglich ist, Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen. Der Jurist Merz ist davon überzeugt, dass Deutschland die Möglichkeit hat. Er beruft sich auf Artikel 72 des Arbeitsvertrages über die Europäische Union. Die erlaube es, wenn "Sicherheit und Ordnung unseres Landes nicht mehr sichergestellt" seien, so der CDU-Chef. 

"Wir erleben zurzeit in wichtigsten staatlichen Funktionen einfach eine Dysfunktionalität", so Merz. "Das sehen wir in den Schulen, das sehen wir in den Krankenhäusern, das sehen wir in den Arztpraxen, das sehen wir in den Unterbringungsmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt. Wir können es in diesem Umfang nicht lassen."

Nach Solingen: Wird jetzt das Asylrecht verschärft?

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EU-Recht aussetzen? "Das wäre eine Atombombe."

Der Konstanzer Verfassungsrechtler Daniel Thym hält den Vorschlag von Merz für "juristisch begründbar". Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte er, ein solches Vorgehen verletze weder das Grundgesetz noch die Genfer Flüchtlingskonvention, könne aber vor dem Europäischen Gerichtshof landen. Er sehe aber durchaus die Möglichkeit, dass sich Deutschland dort durchsetzen könne.

Der österreichische Migrationsforscher Gerald Knaus warnt hingegen vor den Folgen, die es haben könnte, wenn Deutschland Migranten an seinen Grenzen abweise. "EU-Recht auszusetzen, das wäre eine Atombombe, das würde dazu führen, dass dann ganz viele in der EU es nachmachen würden", so Knaus im ZDF. Es sei aber dennoch richtig, dass etwas gegen irreguläre Migration getan werden müsse. "Der Weg, das zu tun, ist nicht zu versuchen, Leute in der EU hin und her zu schieben zwischen den Ländern, sondern irreguläre Migration in die EU zu reduzieren." Beispielsweise durch die Verlagerung von Asylverfahren in sichere Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union.

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