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Politik

Russlands Gefängnisse: Folter, Bedrohung, Vertuschung

Maria Kuznetsova
3. Februar 2022

Ehemalige Häftlinge berichten der DW, wie sie in sibirischen Straflagern gefoltert wurden. Ihre Fälle seien bekannt. Doch die Behörden würden nicht ermitteln, sondern die Opfer bedrohen und alle Taten vertuschen.

Ein grüner Wachturm hinter einem Stacheldrahtzaun
In zahlreichen russischen Haftanstalten sollen Häftlinge gefoltert worden sein, auch im Gefängniskrankenhaus der Stadt SaratowBild: Filipp Kochetkov/ITAR-TASS/imago images

Dutzende Opfer und ihre Anwälte werfen den russischen Behörden vor, zahllose Fälle von Folter vertuschen zu wollen und Anklagen gegen Gefängnispersonal abzulehnen. Besonders große Resonanz hat das Beispiel in der Verwaltungsregion (Oblast) Irkutsk hervorgerufen. Dort haben die Behörden Anfang des Jahres mitgeteilt, die Verfahren in vier Folterfällen seien eingestellt worden. Dabei ist die Liste der mutmaßlich Betroffenen noch deutlich länger. 

Im Oktober 2021 hatte der ehemalige Häftling Sergej Saweljew der russischen Menschenrechtsorganisation Gulagu.net insgesamt 40 Gigabyte  Video- und Fotomaterial aus russischen Gefängnissen zugespielt. Zu sehen ist darin, wie Strafgefangene in verschiedenen Anstalten, nicht nur in Irkutsk, schwer misshandelt werden. Aufgrund dieses Skandals musste der Leiter der föderalen Strafvollzugsbehörde Russlands, Alexander Kalaschnikow, zurücktreten. In einigen Verwaltungsregionen wurden Strafvollzugsbeamte angeklagt und entlassen, andernorts wurde das Problem weitgehend ignoriert.

Der ehemalige Häftling Sergej Saweljew flüchtete nach Paris und bat im Flughafen um politisches AsylBild: gulagu-net.ru

So blieb im Oblast Irkutsk trotz mehrerer Gewaltvideos der Leiter der regionalen Strafvollzugsbehörde Leonid Sagalakow im Amt und wurde dann sogar zum Generalmajor befördert. Aus Irkutsk war bereits im April 2020 über Folter in Gefängnissen berichtet worden, nachdem es in der Strafkolonie Nr. 15 in der Stadt Angarsk zu einer Meuterei gekommen war. Nach offiziellen Angaben hatte ein Gefangener sie provoziert, nach inoffiziellen Berichten war Folter der Grund für den Aufstand.

Gewalt und Missbrauch

Dank der Hilfe der russischen Stiftung "Zur Verteidigung der Rechte von Gefangenen", die von den russischen Behörden als ausländischer Agent gebrandmarkt ist, konnte die DW mit Personen sprechen, die die Meuterei in Angarsk und ihre Niederschlagung als Gefangene erlebten. Aus Angst vor den russischen Behörden haben sie sich unter der Voraussetzung geäußert, dass ihre Namen geändert werden.

Dmitrij berichtet, er und andere Gefangene seien gegen Mitternacht aus den Zellen geführt worden. "Wir lagen bis 9 Uhr morgens auf Beton, die Hände hinter den Köpfen. Wir mussten so auch unsere Notdurft verrichten, denn wir durften nicht aufstehen", erzählt er mit zitternder Stimme. "Wir wurden geschlagen und ausgelacht." Ihm selbst hätten sie damals mehrere Rippen gebrochen und eine Hand verdreht.

Brand während des Aufstands in der Strafkolonie Gefängnis Nr. 15 in Angarsk in der russischen Region IrkutskBild: picture-alliance/dpa/Siberia Without Torture Fund

Andere ehemalige Häftlinge berichten, nach dem Aufstand seien etwa 600 Gefangene auf drei andere Anstalten verteilt worden. "Wir wurden die ganze Zeit gefoltert", sagt Alexej. In dem neuen Gefängnis sei für die Neuankömmlinge ein ganzer Trakt vorbereitet gewesen, in dem sie von Gefangenen erwartetet wurden, die mit der Anstaltsleitung zusammenarbeiteten. Regelrechte Foltertrupps seien das gewesen, in jeder Zelle fünf bis sechs Mann, erinnert sich Alexej: "Wir wurden einzeln in diese Zellen geworfen, dort gefesselt und gefoltert. Es war schrecklich."

Erzwungene Geständnisse und Verleumdungen

Mehrere Quellen aus den Haftanstalten, in die die "Meuterer" gebracht wurden, haben der DW Berichte über regelmäßige Folter bestätigt. So hätten die Gefangenen, die mit der Anstaltsleitung kooperierten, die Neuankömmlinge mit Gewalt gezwungen, andere zu verleumden und zu gestehen, die Meuterei in Angarsk selbst mitorganisiert zu haben.

Wenn einfache Schläge nicht reichten, habe man den Gefangenen Nadeln unter die Nägel geschoben sowie mit Kabeln und Brettern auf die Fersen geschlagen. Auch Vergewaltigungen seien mit verschiedenen Gegenständen verübt worden. Über Monate sei das so gegangen. Dmitrij sagt, ein leitender Wärter, Wasilij L., habe jeden Morgen Menschen geschlagen und gefoltert, außer am Wochenende.

Angehörige und Anwälte konnten die Gefangenen rund sechs Monate lang nicht ausfindig machen. Im September 2020 wurde schließlich gegen 15 Häftlinge Anklage wegen Organisation einer Meuterei erhoben.

Betroffene und Angehörige berichten

Die Gewalt endete im Dezember 2020, als der Häftling Keschik Ondar ins Krankenhaus gebracht wurde, nachdem er gefoltert worden war. "Am ersten Tag wurde ihm im Gefängnis das Bein gebrochen und am zweiten ein Heizstab in den Anus gesteckt, wo er explodierte. Das waren schreckliche Verletzungen und es waren zwei komplexe Operationen nötig. Er wird für immer Invalide bleiben", sagt Keschiks Schwester Asiana Ondar.

Protest in Moskau: "Putins Russland - Land der Gesetzlosigkeit und Folter"Bild: DW/Y. Vishnevets

Ähnliches hat auch die Schwester des Häftlings Tachirschon Bakijew zu berichten. Sie sagt, ihr Bruder sei mit Brettern geschlagen, mit einem Besenstiel vergewaltigt, unter eine Pritsche geworfen und dann mit Taschen zugestellt worden. So habe er zwei Tage liegen müssen.

Auch Jewgenij Jurtschenko berichtet, er sei gefoltert und vergewaltigt worden. Nach seinen Aussagen im Januar 2021 veranlasste die föderale Strafvollzugsbehörde Russlands eine Untersuchung wegen Verletzungen der Menschenrechte in den Haftanstalten im Oblast Irkutsk - gefolgt von mehreren Strafverfahren gegen Mitarbeiter der betreffenden Gefängnisse. Derzeit sitzen einige von ihnen in Untersuchungshaft oder stehen unter Hausarrest. Andere Verfahren wurden eingestellt.

Opfer werden wieder zu Angeklagten

Der Menschenrechtsaktivist Pjotr Kurjanow von der Stiftung "Zur Verteidigung der Rechte von Gefangenen" gehört zu denjenigen, die Folteropfern helfen. Etwa 40 mutmaßliche Betroffene konnten die Aktivisten ausfindig machen. Einige von ihnen verbüßen noch ihre Haftstrafe, können aber ihre Anwälte empfangen. Kurjanow zufolge fürchten viele der Gefangenen um ihre Sicherheit. So wird einer von ihnen seitens der Behörden ohne Angabe von Gründen nicht mehr als Opfer geführt.

Grund zur Sorge haben auch zwischenzeitlich entlassene Betroffene: Jewgenij Jurtschenko etwa wurde im Dezember 2021 wieder inhaftiert. Man wirft ihm Handel mit Drogen in einem Gefängnis vor. Er selbst betont, die Sache sei erfunden, Mitarbeiter der Strafvollzugsbehörden wollten sich an ihm für seine Aussagen rächen.

Menschenrechtsaktivist Pjotr Kurjanow setzt sich für Folteropfer in Russland einBild: Privat

Auch der inzwischen als Folteropfer anerkannte Denis Pokusajew berichtet, er sei nach seiner Haftentlassung von Sicherheitskräften unter Druck gesetzt worden: Zwei Ermittler hätten versucht, gewaltsam in seine Wohnung einzudringen, hätten ihn zu einem Gespräch aufgefordert und durch das Guckloch in der Tür Handschellen gezeigt.

"Sie kommen ein paar Mal, klopfen an der Tür, behandeln einen wie einen Angeklagten und drohen. Man bekommt Angst und unterschreibt Aussagen, die die Behörden brauchen. Das ist es, was sie wollen", erläutert Menschenrechtsaktivist Kurjanow.

Der Einzige, der in der ganzen Affäre bisher wegen Gewaltanwendung angeklagt ist, ist jener leitende Gefängniswärter Wasilij L., der jeden Morgen selbst Gefangene geschlagen haben soll. Er sitzt in Untersuchungshaft. In anderen Fällen wird den Gefängnismitarbeitern lediglich Fahrlässigkeit im Umgang mit Häftlingen vorgeworfen.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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