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Politik

Die guten Seiten des Familiennachzugs

3. Januar 2018

Jugendgewalt in Deutschland war lange Zeit stark rückläufig. Mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen nimmt sie wieder zu. Dennoch warnen die Autoren einer Studie vor verallgemeinernden Schlussfolgerungen.

Geflüchtete demonstrieren vor dem Innenministerium für Familiennachzug
Flüchtlinge demonstrierten im November vor dem deutschen Innenministerium für den Nachzug ihrer Familen-Angehörigen Bild: picture alliance/dpa/S. Stein

Statistisch betrachtet ist das Bundesland Niedersachsen zwischen 2007 bis 2014 sicherer geworden. In diesem Zeitraum sank die Zahl der registrierten Gewalttaten um 22 Prozent. In den beiden folgenden Jahren verzeichnete die Polizei jedoch einen Anstieg um gut zehn Prozent. In dieser Zeit kamen rund eine Million Flüchtlinge nach Deutschland, darunter überproportional viele junge Männer und Heranwachsende. Welche Zusammenhänge zwischen diesen und vielen anderen Zahlen bestehen könnten, ist Thema des am Mittwoch bekannt gewordenen Gutachtens "Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland".

Den Auftrag zur Studie erteilte das Bundesfamilienministerium bereits Anfang 2017 an ein deutsch-schweizerisches Team um den ehemaligen Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Christian Pfeiffer. Auf 103 Seiten analysieren sie ein Thema, das nicht nur in Deutschland emotional stark aufgeladen ist. Erst kurz vor Weihnachten sorgte der gewaltsame Tod einer 15-jährigen Schülerin in der Kleinstadt Kandel für Aufsehen. Der mutmaßliche Täter ist ein unbegleiteter Flüchtling aus Afghanistan.

Junge, männliche Gewalt-Täter sind weltweit überrepräsentiert

Schwerpunkt der aktuellen Untersuchung sind "Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer". Dazu heißt es in der Studie: "In jedem Land der Welt sind die männlichen 14- bis unter 30-Jährigen bei Gewalt- und Sexualdelikten deutlich überrepräsentiert." In Niedersachsen (7,8 Millionen Einwohner) stammte 2014 gut jeder zweite Tatverdächtige aus dieser Altersgruppe, obwohl ihr Anteil der Gesamtbevölkerung weniger als ein Zehntel betrug. Anders sieht das bei Flüchtlingen aus: 2016 gehörten fast 27 Prozent zu den besonders gewaltanfälligen Teenagern und jungen Männern. Da könne es "nicht überraschen", dass knapp zwei Drittel der aufgeklärten Fälle von Tatverdächtigen aus dieser Altersgruppe stammten, schlussfolgern die Kriminologen. 

Aus Sicht des deutschen Familienministeriums zeigt die Studie "einmal mehr, dass wir diejenigen, die zu uns kommen, nicht sich selbst überlassen dürfen" -  sagte Pressesprecherin Verena Herb am Mittwoch in Berlin. Stattdessen müsse man die Integration von Flüchtlingen "aktiv in die Hand nehmen". Beispielhaft nannte sie verpflichtende Integrations- und Sprachkurse sowie mehr Kindergarten- und Schulplätze. "Nur so können wir auch verhindern, dass Langeweile und Frustration in strafbares Verhalten münden." Die Sprecherin der geschäftsführenden Familienministerin Katarina Barley (SPD) sagte aber auch, dass Flüchtlinge ohne Bleibe-Perspektive Deutschland "zügig wieder verlassen müssen". 

Die Bedeutung von Müttern, Ehefrauen und Schwestern

Zugleich machte sie deutlich, wie wichtig der umstrittene Familiennachzug von Flüchtlingen ihres Erachtens sei. Durch die Studie werde bewiesen, "dass Mütter, Ehefrauen und Schwestern auch das soziale Band sind, das die meist jungen männlichen Geflüchteten brauchen, um sich gut integrieren zu können". Eine Bewertung des Falles der mit einem Küchenmesser erstochenen Schülerin in Kandel lehnte die Ministeriumssprecherin ab. "Das ist ja sehr hypothetisch." 

Jugend-Gewalt ist auch keine Frage der HautfarbeBild: picture-alliance/dpa/D. Bockwoldt

Derweil nahm der Sprecher des deutschen Innenministers Thomas de Maizière (CDU) das Gutachten zum Anlass, die Linie seines Hauses zum Themen-Komplex Abschiebungen und freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen zu bekräftigen: "Das muss schneller und besser werden", sagte Johannes Dimroth. Unter anderem plädiert sein Chef de Maizière dafür, Flüchtlinge mit finanziellen Anreizen zur Rückkehr in ihre Heimatländer zu bewegen. Darüber solle auch geredet werden, wenn sich Konservative und Sozialdemokraten demnächst treffen, um die Chancen für eine Fortsetzung ihrer Koalition auszuloten.

Experten plädieren für finanzielle Anreize zur freiwilligen Rückkehr

Auch in der aktuellen Studie zur Gewalt-Entwicklung wird ein "breit angelegtes Programm" für die freiwillige Rückkehr als Ansatz zur Prävention der Gewalt-Kriminalität bezeichnet. Es sei ein "gravierendes Problem", das Staat und Gesellschaft bislang keine befriedigenden Antworten darauf entwickelt hätten. Kriminologe Pfeiffer und seine Kollegen denken dabei vor allem an jene Flüchtlinge, für die es keine gesicherten Aufenthaltsperspektiven geben werde.

Gewalt-Forscher Christian Pfeiffer leitete bis 2015 das Kriminologische Forschungsinstitut NiedersachsenBild: picture alliance/dpa/O. Spata

Dennoch plädieren sie unter Verweis auf Ergebnisse eines Experten-Workshops dafür, auch solchen Flüchtlingen den Zugang zu Sprachkursen und Praktika zu ermöglichen. Wer in Deutschland praktische Fähigkeiten in bestimmten Arbeitsbereichen erwerben könne, "wird diese zu Hause beim Wiederaufbau seines Landes oder bei der Arbeitssuche einsetzen können". Als Anreiz empfehlen die Experten Bargeld-Zahlungen nach erfolgter Rückkehr oder das Gewähren von Krediten.

Städte und Gemeinden gegen Familien-Nachzug

Dringenden Handlungsbedarf sehen auch die in einem Gemeindebund organisierten deutschen Städte und Gemeinden. Einen Nachzug der Familien-Angehörigen von Flüchtlingen mit vorläufigem Schutz lehnt die Organisation ab. Geschäftsführer Gerd Landsberg warnte ebenfalls am Mittwoch in Berlin vor einer Überforderung bei der Integration. Es kämen monatlich immer noch rund 15.000 Flüchtlinge, was einer Kleinstadt entspreche. "Wir tun gut daran, nicht Tür und Tor komplett zu öffnen." Die Möglichkeiten zur Unterbringung der Menschen seien begrenzt. Die künftige Bundesregierung müsse nordafrikanische Staaten als sichere Herkunftsländer einstufen, um die Zuwanderung von dort einzugrenzen.

Löste zum Jahreswechsel 2015/16 eine Debatte und Proteste aus: Sexuelle Übergriffe während der Silvester-Nacht am Kölner Hauptbahnhof - verdächtigt wurden vor allem Nordafrikaner Bild: picture-alliance/dpa/M. Böhm

Auch zu diesen Ländern gibt es in der Gewalt-Studie detaillierte Zahlen und Einschätzungen. Demnach stammen weniger als ein Prozent der in Niedersachsen registrierten Flüchtlinge aus Algerien, Marokko und Tunesien - ihr Anteil unter den Tatverdächtigen bei Gewalt-Delikten liegt jedoch bei 17 Prozent. Ein Erklärungsversuch der Autoren: "Sie haben bald nach ihrer Ankunft erfahren, dass sie hier unerwünscht sind, keine Arbeitserlaubnis erhalten werden und wieder in ihre Heimat zurückkehren müssen."

Afghanen, Iraker und Syrer sind statistisch weniger gewalttätig

Ganz anders sieht die Statistik bei Flüchtlingen aus Afghanistan, Irak und  Syrien aus. Ihr Anteil an allen Flüchtlingen in Niedersachsen beträgt fast 55 Prozent, während sie lediglich in knapp 35 Prozent der Fälle von Gewalt-Kriminalität als Tatverdächtige erfasst wurden. Auch davon sind die Experten um Christian Pfeiffer alles andere als überrascht: Wer als Kriegsflüchtling komme oder aus anderen Gründen für sich gute Chancen auf eine Zukunft in Deutschland sehe, "wird bemüht sein, diese Aussichten nicht durch Straftaten zu gefährden". 

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