Das weltweite Artensterben wollen deutsche Wirtschafts- und Naturwissenschaftler nun gemeinsam bekämpfen. Sie haben ganz konkrete Forderungen an die UN-Biodiversitätskonferenz, die nächste Woche beginnt.
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Christof Schenck, Geschäftsführer der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft und seit vielen Jahren ein Mahner für einen besseren Schutz der weltweiten Arten, neigt eigentlich nicht zum Pessimismus. Aber jetzt zeichnet der diesjährige Träger des Deutschen Umweltpreises doch ein dramatisches Bild vom Verlust der Arten.
Zusammen mit Wirtschaftswissenschaftlern und Vertretern von Umweltorganisationen ist der Naturwissenschaftler nach Berlin gekommen. Sie listen auf, wie schlimm es um die Arten steht: Rund eine Million Arten sind demnach akut vom Aussterben bedroht, jeden Tag verschwinden rund 150 Arten, zumeist unwiederbringlich. Allein bei den Wirbeltieren, so Schenck, sind seit 1970 - in nur etwas mehr als 50 Jahren also - rund 60 Prozent der Arten ausgestorben.
Artenverlust nicht so gut erforscht wie Klimawandel
In Berlin stellten die rund 20 Erstunterzeichner eine "Frankfurter Erklärung" im Vorfeld der UN-Biodiversitäts-Konferenz im kanadischen Montreal, die in der kommenden Woche beginnt, vor.
Der Wirtschaftswissenschaftler Jörg Rocholl, Präsident der internationalen Wirtschaftsuniversität ESMT in Berlin, betonte bei der Vorstellung, der Verlust der Arten friste ein Schattendasein, verglichen mit dem weit bekannteren Problem des Klimawandels - auch im Bewusstsein vieler wichtiger Politiker wie dem US-Präsidenten Joe Biden.
Rocholl sagte der DW am Rande der Veranstaltung in der Hauptstadt: "Der Artenverlust ist weit weniger erforscht als der Klimawandel. Das hängt zum einen damit zusammen, dass der Klimawandel überall sichtbar ist. Wir sehen Überschwemmungen, Dürre, Gewitter."
Die Messbarkeit des Verlustes der Arten sei dabei ein Problem, verglichen mit den Folgen des Klimawandels. "Es gibt dort den Anstieg der Temperaturen und den Anstieg der Treibhausgas-Emissionen, während das bei der Artenvielfalt sehr viel schwieriger zu messen ist," sagte Rocholl. Dabei seien Artenverlust und Erderwärmung eigentlich nur zusammen zu denken, Rocholl nannte die beiden "Zwillingskrisen." Längst gibt es deshalb viele Experten weltweit, die fordern, UN-Konferenzen zum Klima und zu den Arten in Zukunft zusammen zu legen.
Wie der Klimawandel die Wälder des Nordens bedroht
Brände, Schädlingsplagen, Erderwärmung: Der subarktische boreale Wald spielt eine wichtige Rolle für die Zukunft unseres Planeten. Doch durch den Klimawandel ist er ebenso gefährdet wie der Amazonas-Regenwald.
Bild: Ed Jones/AFP
Märchenhafter Morgennebel
Nebel hängt über den Wäldern im Westen der kanadischen Provinz Quebec. Über Kanada, Skandinavien, Russland und Alaska erstreckt sich der Ring des borealen Nadelwalds, benannt nach Boreas, dem griechischen Gott des Nordwinds. Für die meisten Laubbäume ist es hier zu kalt: Der boreale Nadelwald ist die nördlichste Waldzone der Erde. Doch auch hier steigen aufgrund des Klimawandels die Temperaturen.
Bild: ED JONES/AFP
Kühler Klimaretter
Nur Wasser und Bäume, soweit das Auge reicht: Die 1,2 Milliarden Hektar des borealen Waldes bedecken, wie hier in Quebec, zehn Prozent der Erdoberfläche und speichern gigantische Mengen der weltweiten Kohlenstoffemissionen - mehr als alle tropischen Wälder der Erde zusammen. So trägt der nördliche Wald signifikant zur Verlangsamung der globalen Erwärmung bei.
Bild: ED JONES/AFP
Schöner Schein
Sterne strahlen über den Wäldern von Quebec. Doch der idyllische Anblick ist trügerisch: Forschende vermuten, dass die borealen Wälder in diesem Jahrhundert an einen Wendepunkt gelangen könnten - und vom CO2-Speicher zu einer bedeutenden Quelle des Treibhausgases werden können.
Bild: Ed Jones/AFP
Friedhof der Bäume
Denn die nördlichen Wälder sind eines der vom Klimawandel am meisten betroffenen Ökosysteme der Erde: Immer schlimmer wütende Waldbrände, Schädlingsbefall und das Auftauen des Permafrostbodens machen dem Wald zu schaffen. Diese Espen in der Quebecer Gemeinde La Haute-Cote-Nord mussten nach einer Insektenplage gefällt werden.
Bild: ED JONES/AFP
Schädlinge auf dem Vormarsch
Der kanadische Ökologe Louis de Grandpre zeigt auf ein Loch in einer Tanne, das von einem Knospenwurm stammt. Hunderttausende Hektar Waldfläche hat der Schädling bereits zerstört - und es werden wohl noch mehr werden: "Mit der fortschreitenden globalen Erwärmung kann der Knospenwurm jetzt in Gebiete vordringen, in die er früher nicht gelangen konnte“, sagte de Grandpre der Nachrichtenagentur AFP.
Bild: ED JONES/AFP
Spur der Verwüstung
Auch in Finnland machen Insekten dem Wald zu schaffen: Holzkäfer haben einen Stollen in einen Baum in Lappland gegraben. Untersuchungen zeigen, dass die skandinavischen Wälder in den vergangenen 20 Jahren immer häufiger von Käfern befallen werden.
Bild: IPSGALLERY MARKUSMELIN/AFP
Blauer Hoffnungsschimmer
Dank der Erderwärmung haben die Schädlinge leichtes Spiel: Die Bäume sind bereits durch die Trockenheit geschwächt und haben es daher schwer, die gefräßigen Insekten abzuwehren, die wiederum von den längeren Sommern und wärmeren Wintern profitieren. Doch es gibt auch Hoffnung: Die Blaubeeren auf dem Bild wachsen in einem Gebiet Kanadas, das sich nach einem Insektenbefall regeneriert hat.
Bild: ED JONES/AFP
Bedrohte Nahrungskette
Nicht nur der Wald ist bedroht, sondern auch seine Bewohner: Durch den Klimawandel finden diese Rentiere immer weniger Futter. Weil es häufiger regnet als schneit und der Regen auf dem Boden gefriert, werden die Futterpflanzen mit einer schwer zu durchdringenden Eisschicht überzogen. In Kanada geht die Zahl der Rentiere bereits so stark zurück, dass sie dort als gefährdete Art eingestuft sind.
Bild: OLIVIER MORIN/AFP
Ödland für Ölsand
Der Mensch trägt noch zusätzlich zur Futter-Knappheit bei: Das Luftbild zeigt einen Betrieb in der Provinz Alberta, in dem Ölsand abgebaut wird, mitten im Herz der borealen Wälder Kanadas. Für die riesigen Tagebaue wurden große Flächen Kiefern gerodet.
Bild: Ed Jones/AFP
"Betrunkener Baum"
Skeptisch blickt der Ökologe Louis de Grandpre zu einem schief stehenden Baum am Ufer eines Sees auf. Der Baum hat sich aufgrund des schmelzenden Permafrostbodens bereits geneigt; wenn der Boden vollständig erodiert, wird er umfallen - ebenso wie zahlreiche seiner Artgenossen, die aufgrund ihrer Schieflage als "betrunkene Bäume" bezeichnet werden.
Bild: ED JONES/AFP
Schrumpfender Lebensraum
Es ist ein Teufelskreis: Während der Boden auftaut, zerfressen Bakterien die über Tausende von Jahren angesammelte Biomasse und erzeugen Kohlenstoff- und Methan-Emissionen, die wiederum zur Beschleunigung der globalen Erwärmung beitragen. Und so ist der Lebensraum dieses Braunbären, der inmitten blühenden Wollgrases in der finnischen Taiga steht, zunehmend bedroht.
Bild: M. Woike/blickwinkel/picture alliance
Grüne Grenze
Wenig Grün, viel Grau: Tote Baumstämme ragen in der kanadischen Provinz Alberta in den Himmel. Der Wald trägt hier immer noch Spuren eines riesigen Brandes im Mai 2016. 90.000 Menschen mussten damals in Sicherheit gebracht werden, viele verloren ihr gesamtes Hab und Gut in dem Inferno. Der Waldbrand war die verheerendste Naturkatastrophe in der Geschichte Kanadas.
Bild: ED JONES/AFP
Waldbrände: Immer größer, immer heftiger
Waldbrände nehmen in Alaska, Kanada und Sibirien immer mehr zu - und richten heute doppelt so viel Schaden an wie noch vor einem Jahrhundert. Sie sind eine der größten Bedrohungen für die Wälder des Nordens. "Die Brände sind jetzt heftiger und erstrecken sich über größere Gebiete", erklärt der Waldforscher Yan Boulanger, der hier gerade eine Bodenprobe entnimmt.
Bild: ED JONES/AFP
Spirale der Zerstörung
Der Waldforscher David Paré untersucht eine Messstation nahe Quebec. Ausgelöst werden Waldbrände meist von Blitzschlägen - und während der immer häufiger auftretenden Hitzewellen im Sommer gibt es öfter Gewitter. Es ist eine Spirale der Zerstörung: Waldbrände führen zu massiven Treibhausgas-Emissionen, die wiederum den Klimawandel anheizen.
Bild: ED JONES/AFP
Altes Wissen gegen neue Probleme
Indigene Gemeinschaften praktizieren schon lange ein kulturelles Abrennen des Waldbodens. Die indigene Wissenschaftlerin Amy Cardinal Christianson erklärt, dass diese kontrollierten Waldbrände die Auswirkungen nicht intendierter Brände verringern können: Brände, die etwa durch Blitzschlag verursacht werden und vor allem in den Baumkronen lodern, können sich dann weniger stark ausbreiten.
Bild: ED JONES/AFP
Ungewisse Zukunft
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoffen, dass Wiederaufforstung, technologischer Fortschritt, indigene Methoden und Schutzgebiete - wie hier in einem Reservat der Innu bei Quebec - dazu beitragen, den borealen Wald zu retten. "Wir wissen nicht, wie die Zukunft dieser Wälder aussehen wird", sagte Forscher De Grandpre gegenüber AFP.
Bild: Ed Jones/AFP
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Wirtschaft muss Kosten selbst tragen
In der "Frankfurter Erklärung" heißt es dazu: "Der dramatische Verlust an biologischer Vielfalt gefährdet unsere Lebensgrundlage."
Die Forderung der Erstunterzeichner: Die Wirtschaft dürfe die Kosten für die Nutzung der Natur wie etwa Verkehrswege zu Land, zu Wasser und in der Luft nicht länger der Allgemeinheit überlassen, sondern diese Kosten müssten in die Wirtschaftskreisläufe integriert werden. Das ist eine alte Forderung auf vielen UN-Biodiversitätskonferenzen, die aber in den 30 Jahren, in denen es solche Treffen gibt, noch nicht konkret umgesetzt wurde.
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Zentrale Forderungen zum Schutz
Schenck mahnte an, jetzt endlich zu handeln: "Nötig ist eine verbindliche, globale Vereinbarung historischen Ausmaßes zum Schutz der Natur. Sie muss den Rahmen setzen, den Verlust der biologischen Vielfalt zu stoppen, mit und nicht gegen die Natur zu wirtschaften und geschädigte Natur wieder herzustellen." Deshalb unterstützen die Wissenschaftler auch die zentrale Forderung, die in Montreal eine große Rolle spielen wird: Bis 2030 sollen 30 Prozent der Landes- und Meeresflächen unter Schutz gestellt sowie engagierte Pläne zur Renaturalisierung für diese Gebiete verabschiedet werden. Das ist bislang nur bei sehr wenigen solcher Flächen der Fall.
Das Ziel wird aber - immerhin - auch von der deutschen Bundesregierung unterstützt. Die Wissenschaftler loben außerdem, dass Deutschland seine Mittel für den Artenschutz gerade auf 1,5 Milliarden Euro verdoppelt hat. Aber sie fügen auch hinzu, wie winzig dieser Betrag anmute, wenn im gleichen Jahr etwa für die Aufrüstung der Bundeswehr plötzlich 100 Milliarden Euro und für den Kampf gegen die hohen Energiepreise sogar 200 Milliarden Euro möglich seien.
Schlechte Vorzeichen für die Artenschutzkonferenz in Montreal
Und ob es in Montreal wirklich zu einem Durchbruch kommt, ist mehr als offen. Die Stimmung unter den rund 190 UN-Staaten ist angespannt. Die Biodiversitäts-Konferenz sollte ursprünglich in China stattfinden und war wegen der Corona-Pandemie mehrfach verschoben worden, jetzt fungieren China und Kanada in Montreal gemeinsam als Ausrichter. Ob sich beide Länder vertragen werden, ist unsicher. Zuletzt waren Chinas Präsident Xi Jinping und Kanadas Premier Justin Trudeau am Rande des G20-Gipfels auf Bali Mitte November vor laufenden Kameras heftig aneinander geraten. Xi warf Trudeau vor, Inhalte eines vertraulichen Gesprächs vom Vortag an die Medien durchgestochen zu haben.
In China hat die strikte Anti-Corona-Politik der Regierung jetzt zu Protesten in der Bevölkerung geführt. Stichwort Pandemie: Die deutschen Wissenschaftler sind sich mit vielen Kollegen weltweit einig, dass der Verlust an Arten auch zu einer Zunahme von Pandemien mit immensen Kosten führen wird. Noch ein Grund mehr, endlich gegenzusteuern