Holocaust-Foto: Mordender Nazi von 1941 ist identifiziert
15. Oktober 2025
100.000 Menschen – in erster Linie jüdische – ermordeten die Nationalsozialisten des Einsatzkommandos C in der Ukraine bis zum Frühjahr 1942. Darunter auch einen Mann mit vollem Haar und eingefallenen Wangenknochen, der einen langen Mantel trägt und mit resigniertem Blick am Rand einer Grube kauert, Sekunden bevor er erschossen wird.
Die vielen Leichen vor ihm und der Schütze mit der Pistole hinter ihm lassen keinen Zweifel: Er weiß, dass er sterben wird. Das Opfer ist weiterhin unbekannt, doch der Täter konnte jetzt mit einer Wahrscheinlichkeit von 99 Prozent identifiziert werden.
Der Mann, der in "lässiger Pose" mit "performativer Indifferenz" und "prozedualer Selbstverständlichkeit" die Pistole hält, ist höchstwahrscheinlich der SS-Verbrecher Jakobus Onnen, und das Foto wahrscheinlich eine Nazi-Trophäe, so der Historiker Jürgen Matthäus.
Die neuen Erkenntnisse des ehemaligen Leiters der Forschungsabteilung des United States Holocaust Memorial Museums wurden kürzlich in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft im Metropol Verlag veröffentlicht.
"Das ist ein wichtiger Schritt, mit dem wir der historischen Realität des Holocausts näher kommen. Das sind Momente, in denen Historiker – wenn ich das verallgemeinern darf – denken: Hier habe ich die Grenzen unseres Wissens erweitert", sagt Matthäus im Gespräch mit der DW.
Das besagte Bild wurde unter dem Namen "Der letzte Jude in Winniza" zu einer der bekanntesten Bildikonen des Holocausts, seit es 1961 beim Prozess gegen den NS-Verbrecher Adolf Eichmann in Israel auftauchte. Doch bisher war nur wenig über das Bild bekannt, und einiges davon stellte sich im Nachhinein sogar als falsch heraus.
Geschichte eines der bekanntesten Bilder aus der Holocaust-Zeit
Laut der Nachrichtenagentur United Press International, die das Bild damals verbreitete, stammt es von dem Holocaust-Überlebenden Al Moss aus Chicago. Der habe das Bild angeblich 1945 kurz nach seiner Befreiung durch die amerikanischen Truppen in München erhalten und an die Nachrichtenagentur übergeben.
Doch das Bild war lange falsch gekennzeichnet. Erst vorletztes Jahr konnte Matthäus herausfinden, dass das Bild nicht, wie ursprünglich gedacht, irgendwann zwischen 1941 und 1943 im ukrainischen Winnyzja aufgenommen wurde, sondern in Berdytschiw, etwa 150 Kilometer von Kyjiw entfernt.
Die Erkenntnis war die Folge eines glücklichen Zufalls. Vor wenigen Jahren erhielt das United States Holocaust Memorial Museum in Washington die Kriegstagebücher des österreichischen Wehrmachtssoldaten Walter Materna, der 1941 im ukrainischen Berdytschiw stationiert war.
Darin befand sich ein Abzug eben jenes Bildes, aber in deutlich besserer Qualität als der bisher bekannte Abzug. Darauf der Rückseitentext: "Ende Juli 1941. Hinrichtung von Juden durch SS in der Zitadelle von Berditschew. 28. Juli 1941".
Ein Tagebucheintrag Maternas unter demselben Datum, in dem er die Ermordung von hunderten jüdischen Menschen an derselben Grube an der Zitadelle von Berdytschiw beschreibt, bekräftigte die These, dass der Tatort nicht Winnyzja, sondern Berdytschiw war.
Seine Forschungsergebnisse zu Maternas Tagebüchern veröffentlichte Matthäus Ende 2023 in der Fachzeitschrift "Holocaust and Genocide Studies". Die Tageszeitung "WELT" berichtete darüber.
Erfolgreiche Schwarmintelligenz half, SS-Mitglied als Mörder zu identifizieren
Daraufhin erhielt Matthäus mehrere Hinweise von Leserinnen und Lesern, die den Täter erkannt haben wollten. Einer von ihnen kam von einem pensionierten Gymnasiallehrer, der schrieb, dass das "grauenerregende Bild seit Jahrzehnten" in seiner Familie eine Rolle spiele, "weil es einen SS-Angehörigen zeigt, der einem Onkel meiner Ehefrau, Bruder ihrer Mutter, ähnlich sieht... Einem Onkel, der als Mitglied der Einsatzgruppe C zum fraglichen Zeitraum 'vor Ort' war", schreibt Matthäus in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft.
Der Onkel der Ehefrau ist besagter Jakobus Onnen, geboren 1906 im ostfriesischen Dorf Tichelwarf, nahe der niederländischen Grenze. Er studierte in Göttingen Französisch, Englisch und Sport auf Lehramt und unterrichtete dann an der Deutschen Kolonialschule in Witzenhausen. 1931 trat er in die SA (Sturmabteilung) ein, ein Jahr später wechselte er in die SS (Schutzstaffel), eine Art Elitetruppe der Polizei unter den Nazis, die als Schutztrupp von Adolf Hitler begonnen hatte. Anfang Juni 1941 wurde er Teil der Einsatzgruppe C, die hunderttausende jüdische Menschen in Osteuropa ermordete.
"Jakobus Onnen stammt aus einer Familie der Mittelschicht, sein Vater war Lehrer und starb früh. Er musste sich schon früh um seine Geschwister kümmern. Er wollte dann, wie sein Vater, Lehrer werden. Zu diesem Zeitpunkt war er wohl bereits von der Nazi-Ideologie durchdrungen, auch seine Studienzeit in Göttingen war eindeutig von der nationalsozialistischen Studentenbewegung beeinflusst", so Matthäus.
Matthäus: Zusammenarbeit zwischen KI und menschlichen Experten entscheidend
Gegen Onnen wurde nie ermittelt, weil er im August 1943 im Krieg starb. Zudem hatte seine Schwester die Kriegsbriefe ihres Bruders vernichtet und somit jegliche Rekonstruktion ausgeschlossen.
Trotzdem konnte die Identität des Mörders jetzt anhand KI-Gesichtserkennungssoftware und hilfsbereiten KI-Experten mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmt werden – und dank des Gymnasiallehrers, der seinen Verwandten auf dem Bild erkannte und Vergleichsfotos mitschickte.
"Je mehr wir mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten, desto besser: nicht nur mit Historikern, sondern auch mit Kunsthistorikern, technischen Experten, Musikwissenschaftlern, Psychologen, Politikwissenschaftlern, etc.", so Matthäus.
Holocaust-Opfer werden vielleicht nie identifiziert
Name und biographische Details des Schützen sind jetzt bekannt, aber das Opfer bleibt – wie in so vielen Fällen – weiterhin unbekannt, obwohl sein Gesicht auf dem Bild sehr gut zu erkennen ist. Das sei nicht überraschend, meint Matthäus, denn die Nazis listeten bewusst die Namen der erschossenen Menschen in Osteuropa nicht auf, anders als bei den Deportationen aus Westeuropa.
"Die Mehrheit der Holocaust-Opfer in Osteuropa ist namenlos geblieben, wie von den Tätern beabsichtigt. Im Laufe der Zeit wurden zwar massive Anstrengungen unternommen, um die Opfer zu de-anonymisieren, trotzdem werden wir viele Menschen wahrscheinlich nie namentlich benennen können. Ein Großteil dieser Arbeit wurde von Überlebenden selbst geleistet, die Menschen anhand von Fotos, Memoiren oder Zeugenaussagen identifiziert haben", so Matthäus.
Trotzdem ist der Historiker "vorsichtig optimistisch", dass auch das Opfer mithilfe von interdisziplinärer Zusammenarbeit, Schwarmintelligenz und KI (künstliche intelligenz) irgendwann noch identifiziert werden kann. In der Zusammenarbeit von Menschen und KI sieht er für die Holocaust-Forschung viele Chancen.
"Wenn es für dieses Foto möglich ist, dann geht es auch für Briefe, Tagebücher und andere Dokumente. Ich denke, vieles hängt davon ab, inwiefern die Gesellschaft bereit ist, sich für solche neuen Möglichkeiten zu begeistern – nicht nur Forschende und Politiker, sondern auch Individuen und Familien", sagt Matthäus.