Einblicke in die Armutsprostitution
7. Dezember 2021Als sie jung waren, hatten sie ganz andere Berufspläne. Sie wollten Ärzte, Polizistinnen oder Altenpflegerinnen werden. Doch heute arbeiten sie als Sexarbeiterinnen - ein Beruf, der in der deutschen Gesellschaft immer noch weitgehend tabuisiert ist, obwohl die Sittenwidrigkeit der Prostitution 2002 per Gesetz abgeschafft wurde und ein Prostituiertenschutzgesetz 2017 das Los der Sexarbeiterinnen verbessern sollte.
Die rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Sexarbeiterinnen hat sich seither nicht wesentlich verbessert. Noch immer sind sie Opfer ausbeuterischer und krimineller Strukturen. Prostitution sei zwar legalilisiert worden, sagt Julia Wege, doch leideten die Frauen extrem unter ihrer Stigmatisierung. Wege ist Gründerin von Amalie Mannheim, einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen. "Die Frauen sind oft gezwungen, ein Doppelleben zu führen". Sexarbeiterin sei eben noch weit davon entfernt, "ein Beruf wie jeder andere zu sein", so Julia Wege im DW-Interview.
Die Realitäten des Rotlichtmilieus
Viele Menschen glaubten, dass Sexarbeiterinnen viel Geld verdienten sowie selbstbestimmt und freiwillig arbeiteten. In einigen Fällen möge das zutreffen, doch die Mehrzahl der Frauen verkaufe ihren Körper für ein paar Euro, um zu überleben, sagt Wege. Kaum einer kenne die Mechanismen und Strukturen des Rotlichtmilieus, die wenigsten wüssten um brutale Realität. Licht in das Dunkel soll jetzt eine Ausstellung in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen bringen. Unter dem Titel "Gesichtslos - Frauen in der Prostitution zeigt die Schau inszenierte Aufnahmen des Fotografen Hyp Yerlikaya.
Die darauf abgelichteten Frauen tragen ausdruckslose weiße Masken. Die gewollte Gesichtslosigkeit steht für die tägliche Realität der Prostituierten, die in der Öffentlichkeit zumeist ihre wahre Identität verbergen. Viele der Frauen leben unsichtbar am Rande der Gesellschaft.
Aufschlussreiche persönliche Geschichten
"Mit dieser Ausstellung wollen wir ein Bewusstsein für die Lage der Betroffenen schaffen", sagt Julia Wege. Auch wirbt die Ausstellung für Empathie, Respekt und Wertschätzung für die Sexarbeiterinnen, die - wie andere Menschen auch - ein unantastbares Recht auf Würde besitzen. Schwierige Lebenssituationen, finanzielle Nöte, Perspektivlosigkeit, häufig verbunden mit geringer Bildung - das seien die häufigsten Gründe, die Frauen in die Sexarbeit trieben, so Wege.
Manche Frauen seien mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelocktworden und arbeiteten hier gegen ihren Willen für Zuhälter. Einigen habe das Fotoprojekt nun ermöglicht, über ihre Gefühle und Wünsche, Träume und Hoffnungen zu sprechen.
Zehn Frauen nahmen an den zweijährigen Vorbereitungen für die Ausstellung teil. Sie konnten mitbestimmen, an welchen Orten und in welchen Szenen sie fotografiert werden wollten. Außerdem wurden zu ihren Lebenserfahrungen befragt. Der Fotograf Hyp Yerlikaya begleitete sie und machte über 1800 Bilder, 40 davon schafften es in die Ausstellung.
Frauen am Rande der Gesellschaft
Es ist nicht das erste Mal, dass Yerlikaya mit Frauen am Rande der Gesellschaft arbeitet. Vor Jahren hat er Acid Survivors e.V. gegründet, einen Verein, der Überlebenden von Säureattacken in Bangladesch hilft. Er wolle keine klischeehaften Schnappschüsse über Sexarbeit verbreiten, sondern das Thema neu im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankern. "Fotografie kann eine gefährliche Waffe sein, wenn sie in die falschen Hände gerät", sagt er. Das Thema Prostitution hätte man auch auf voyeuristische oder pornografische Weise darstellen können", sagte Yerlikaya im Gespräch mit der Deutschen Welle. Das habe man aber nicht getan. "Wir haben uns stattdessen auf die Frauen und ihre Geschichten konzentriert."
So zeigen die Schwarz-Weiß-Fotos die Frauen nicht nur bei der Arbeit. Sie präsentieren sie auch in anderen Rollen: als Mütter, als Putzfrauen oder bei anderen Tätigkeiten. In der Ausstellung werden die Bilder durch Zitate und Audio-Interviews mit den Frauen ergänzt. Die Kombination aus Text, Bild und O-Ton erhelle das komplexe Thema "Prostitution" in all seinen Abgründen, sagt Ausstellungskuratorin Stephanie Hermann. Die Darstellung der Frauen mit der weißen Maske über dem Gesicht nennt sie im DW-Gespräch eine "fotografische Interpretation eines Lebens im Verborgenen".
Die Fotoausstellung "Gesichtslos - Frauen in der Prostitution" ist noch bis zum 20. Februar 2022 in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim zu sehen.
Adaption aus dem Englischen: Stefan Dege