Fotoausstellung "Kontinent"
2. Oktober 2020Ute und Werner Mahler sind 2019 - 2020 tausende Kilometer gefahren, um für ihre Serie "An den Strömen" fünf der vierzehn großen europäischen Flüsse mit ihrer analogen Großformatkamera zu fotografieren: die naturbelassene Elbe, die von lebenslustigen Menschen besiedelte Donaulandschaft, den öden Po, die Wolga mit ihrer Erinnerungslast an den Zweiten Weltkrieg und die dicht befahrene Wasserstraße des Rheins. "Diese Flüsse erzählen von Europa", sagt Ute Mahler. "Zum Beispiel gibt es zwischen Bulgarienund Rumänien nur eine einzige funktionierende Brücke. Eine neugebaute zweite mit sechs Spuren löst das Problem der Flussüberquerung nicht, weil die Zubringer nur Landstraßen sind, da stauen sich die Laster. Das sagt viel über den Zustand der Beziehung zwischen diesen Ländern aus."
Zu sehen sind die Schwarz-weiß-Fotografien des Künstlerpaars ab Freitag (02.10.2020) in einer Ausstellung der Agentur Ostkreuz in der Berliner Akademie der Künste. "Kontinent - Auf der Suche nach Europa" ist die fünfte Gemeinschaftsausstellung der "Agentur der Fotografen", wie sie sich seit ihrer Gründung kurz nach dem Mauerfall nennt. Am Rande einer ersten gemeinsamen Ausstellung ostdeutscher Fotografie in Paris beschlossen damals sieben Fotografinnen und Fotografen, sich nach dem Vorbild der Fotoagentur Magnum zusammenzutun. In drei Jahrzehnten hat sich Ostkreuz zur bekanntesten deutschen Agentur für künstlerische Fotografie entwickelt, werden die Bilder der inzwischen 23 Mitglieder in herausragenden Publikationen gedruckt und hängen in internationalen Museen und Galerien.
Fixpunkt Paris
Am Pariser Platz in Berlin sind nun höchst unterschiedliche Bilder von 23 Fotografen und Fotografinnen präsentiert, die fast alle in aufwendigen Langzeitprojekten entstanden. Dabei erzählt die Ausstellung von Europa, ihrem Thema, eingeschrieben ist ihr gleichzeitig aber auch die Geschichte der Agentur selbst. Paris ist dabei ein Fixpunkt, zu dem sie immer wieder zurückkehrt. Mit den kleinformatigen Fotos von Sibylle Bergemann, der 2010 verstorbenen Gründerin, aus den Jahren 1979/82, die Paris als Sehnsuchtsort von herber Melancholie zeichnen. Und mit den direkt gegenüber hängenden, verstörenden Bildern, die Annette Hauschild und Maurice Weiss im November 2015 unmittelbar nach den Bataclan-Anschlägen in Paris gemacht haben. Damals feierte die Agentur ihr 25-jähriges Bestehen mit einer Ausstellung in der französischen Hauptstadt, in der sich zur Messe Paris Photo die internationale Fotoszene versammelt hatte.
Reisen und Stillstand
Fotografieren hat viel mit Reisen zu tun, die mehr als 400 Arbeiten der "Kontinent"-Ausstellung entstanden in fast zwei Dutzend Ländern. Der durch seine Alltags- und Berlinfotografien bekannte Mitbegründer Harald Hauswald machte das Durchqueren von Ländern selbst zum Thema. Er reiste 2018 auf den Spuren des Orient-Express mit einem Interrail-Ticket für Senioren durch die Schweiz, Österreich, Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis nach Istanbul - eine Strecke, die in weiten Teilen parallel zur Balkanroute verläuft. Seinen Weg hat er nur mit der Handykamera dokumentiert und für "Kontinent" einige der über zehntausend Aufnahmen nach den Stationen zyklisch arrangiert.
Ein junger Mann sitzt still vor einer Gardine, die aussieht, als hinge sie seit den Sechzigerjahren dort, mit geschlossenen Augen, während sich der Qualm seiner Zigarette neben ihm kringelt. Die Luft scheint stillzustehen wie die Zeit. Sezar Krout ist einer von sieben Flüchtlingen, die Sybille Fendt seit 2015 porträtiert hat. Die Fotografin hat Flüchtlingsheime im Schwarzwald, ihrer eigenen alten Heimat, aufgesucht und sich dann über Jahre hinweg immer wieder im Holzbachtal, einem besonders abgelegenen Ort, aufgehalten. So lange, bis die geflüchteten Männer sie gar nicht mehr als Außenstehende wahrnahmen. Ihre Serie "Holzbachtal, nothing, nothing" erzählt von der Hoffnungslosigkeit der Männer - und indirekt von den Lockungen und Enttäuschungen des Mythos Europa.
30 Jahre Ostkreuz
Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Sprache der Ostkreuz-FotografInnen? "Wir sind sehr bestrebt, dass man unsere sehr unterschiedlichen fotografischen Handschriften sehen kann", erklärt Werner Mahler. "Aber was uns alle verbindet, ist die Achtung vor dem fotografischen Gegenstand, die Empathie, die man ihm entgegenbringt. Da ist es egal, ob es ein Fluss ist oder ein Porträt." Diese Haltung sei auch so eine Art Aufnahmebedingung für die vielfältig gewordene Agentur, deren jüngstes Mitglied, Sebastian Wells, erst 23 ist. Und deren Mitglieder längst nicht mehr in Ost- oder West-FotografInnen zu sortieren sind - kommen sie doch aus Deutschland, Frankreich, Norwegen und der Ukraine.
"Die Agentur hat sich aus zwei Motiven gegründet", berichtet die Fotografin Linn Schröder, die seit 2004 dazu gehört. Aus der Überlegung heraus, dass man gemeinsam stärker ist, und aufgrund der Tatsache, dass man mit einem neuen System konfrontiert war. "Es war beides: Wir sind gemeinsam, und wir sind Firma. Diesen Geist, dass man sich persönlich versteht, sich austauscht, gern zusammen und andererseits auch beruflich eine Gemeinschaft ist - den findet man nur in einer Agentur mit einem so besonderen Hintergrund."
Gegen die Zweifel an Europa
Und das Thema Europa? Als man sich vor fünf Jahren im Garten der Agentur in Berlin-Weißensee darauf einigte, war das Gefühl eines zusammenwachsenden Kontinents stärker als je zuvor. Dann kamen die Flüchtlinge, der andauernd krisenhafte Umgang mit der Zuwanderung, die islamistischen Terroranschläge, der Brexit und jetzt die Pandemie, erklärt Ingo Taubhorn, der Kurator der Ausstellung. "Die Zweifel am Gelingen von Europa sind größer denn je", meint Taubhorn. Umso wichtiger sei es, dem europäischen Gedanken neues Leben einzuhauchen. "Der geistige Raum, den wir hier mit den unterschiedlichsten Serien bespielen, gibt uns, wenn auch fragmentarisch, so doch auf vielschichtige Weise eine Projektionsfläche, auf der jeder sich dafür sensibilisieren kann, wofür Europa steht."
Diesen "geistigen Raum" öffnet die Ausstellung nicht nur zur Gegenwart, sondern auch in historischer Tiefe. Maurice Weiss' Fotoserie "Si jamais ils reviennent" (dt.: Falls sie jemals zurückkommen) untersucht, wie verschiedene Generationen mit dem Erbe des Zweiten Weltkriegs umgehen. "Sie", die Nazis, könnten ja wiederkommen. Linn Schröder erzählt die Fluchtgeschichte einer Zwölfjährigen aus dem Jahr 1945, deren Stationen die Künstlerin mit ihren eigenen Kindern auf einer Reise durch Polen nachgestellt hat. "Ich fragte mich, wie wäre das, wenn ich in eine solche Lage gekommen wäre. Wenn man sich hineinversetzt, erkennt man, wie fragil das alles ist, und wie unfassbar, wenn einem nicht geholfen wird, gerade mit Familie, mit Kindern." Mittels einer subjektiven Geschichte veranschaulicht die Fotografin ein politisch schwieriges, aktuelles humanitäres Problem. Die Ausstellung mit ihrer ganzen Vielfalt nennt sie einfach nur "eine Liebeserklärung an Europa".
Die Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin, ist noch bis zum 10. Januar 2021 zu sehen. Sie wird anschließend in der Kunsthalle Erfurt und danach in The Cube, Eschborn, gezeigt.
Begleitend zur Ausstellung erschien eine Podcast-Reihe mit insgesamt 22 ca. halbstündigen Folgen: Die Journalistin und Buchautorin Anja Maier im Gespräch mit Kurator Ingo Taubhorn und den Fotografinnen und Fotografen