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Annelise Kretschmer: Fotografin in der Weimarer Republik

Susanne Spröer15. September 2016

Zur Photokina zeigt das Käthe Kollwitz Museum in Köln Fotografien von Annelise Kretschmer: Eine der "Neuen Frauen" der Weimarer Republik, die mehr als Kinder und Küche wollten. Bis die Nazis kamen.

Käthe Kollwitz Museum Köln - Ausstellung Annelise Kretschmer. (Foto: Christiane von Königslöw)
Bild: Christiane von Königslöw

Ende der 1920er Jahre ist meine Großmutter Anna Martha Unger 15 Jahre alt. Auch ihren Heimatort Johanngeorgenstadt im Erzgebirge, dessen rund 6000 Einwohner vom Bergbau leben, haben die Modetrends aus Berlin und Paris erreicht. Meine Oma wünscht sich nichts sehnlicher als einen "Bubikopf": den angesagten Schnitt mit maximal kinnlangem Haar. Ihr Vater ist strikt dagegen. Er hält nichts von Frauen mit kurzem Haar, die dann womöglich auch noch Hosen tragen wollen… Frauen, wie sie die Dortmunder Fotografin Annelise Kretschmer porträtiert.

Die "Neuen Frauen" der Weimarer Republik: Arbeit und Selbstverwirklichung

"Es gab immer mehr von ihnen", sagt Thomas Linden, der in Köln die Ausstellung "Annelise Kretschmer – Entdeckungen. Photographien 1922 bis 1975" zusammengestellt hat. Es sind vor allem privilegierte bürgerliche Frauen, die sich buchstäblich nicht mehr in die Korsetts der Kaiserzeit zwängen, sondern in selbst gewählten Berufen arbeiten und eine kameradschaftliche Ehe führen möchten. Das neue Selbstbewusstsein zeigen sie auch modisch. "Dieses Frauenbild wurde in Zeitschriften wie z.B. der Westdeutschen Illustrierten Zeitung propagiert", sagt Linden. "Die Frauen hatten kurze Haare und Mützen auf. Und so ein bisschen was Androgynes." "Neue Frauen" werden sie bald genannt. Annelise Kretschmer fotografiert sie nicht nur, sie ist selbst eine von ihnen. "Ich habe sie verehrt, als Frau und als Mutter", sagt Christiane von Königslöw, die jüngste Tochter von Annelise Kretschmer, die 20 Jahre lang mit ihr im Fotoatelier zusammengearbeitet hat. "Meine Mutter hat ja für eine ganze Familie sorgen müssen, einen Mann und vier Kinder. Ich fand das sehr tüchtig."

Den Weg bereitet hatten den "Neuen Frauen" der Weimarer Zeit schon die Aktivistinnen der Frauenbewegung, zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie Minna Cauer, die "freie Bahn für die politische Betätigung" forderte. Während des Ersten Weltkrieges übernahmen Frauen dann ganz selbstverständlich die Aufgaben der abwesenden Männer. Und wollten danach nicht mehr hinter ihnen zurückstehen. Auch nicht in der Politik.

Marie Juchacz – erste Rednerin in einem deutschen Parlament

In der Weimarer Nationalversammlung sitzen 1919 fast zehn Prozent Frauen. Die SPD-Politikerin Marie Juchacz spricht am 19. Februar 1919 als erste Frau vor einem deutschen Parlament. Schon ihre Anfangsworte "Meine Herren und Damen" lösen Heiterkeit aus, später ruft der Sitzungspräsident mit der Glocke zur Ordnung, neben Beifall gibt es Buhrufe. "Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist", ruft Marie Juchacz. Sie meint das aktive und passive Wahlrecht, das nun alle Reichsbürger ab 20 Jahren haben – Männer und Frauen.

Die SPD-Politikerin Marie Juchacz hielt als erste Frau eine Rede in einem deutschen ParlamentBild: picture-alliance/Imagno

Aber nur wenige Jahre lang wird Deutschland wegweisend sein in puncto Gleichberechtigung. Die Tage der "Neuen Frauen" sind gezählt. Denn 1933 kommen die Nationalsozialisten an die Macht. Frauen werden aus Politik und Gesellschaft wieder zurückgedrängt. Denn für die Nazis sind sie in erster Linie eins: Mütter.

Irmgard Keun und Vicki Baum – erfolgreiche Schriftstellerinnen

Ob meine Großmutter den Roman "Das kunstseidene Mädchen" (1932) von Irmgard Keun gelesen hat? Ich weiß es nicht. Meinem Urgroßvater hätte das sicher nicht gefallen. Aber viele Leserinnen sind fasziniert von der Geschichte der 18-jährigen Doris aus der rheinischen Provinz, die im schillernden Berlin der 1920er so gern ein "Glanz" werden möchte – und scheitert. In ihren Büchern mit autobiographischen Zügen schildert Keun das harte und komplizierte Leben junger Frauen. Unter den Nazis werden ihre Bücher verboten. Sie geht ins Exil.Auch Vicki Baum, die wohl erfolgreichste Schriftstellerin der Weimarer Republik, muss ihre österreichische Heimat verlassen. Die Autorin des Romans "Menschen im Hotel", der mit Greta Garbo verfilmt und mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, ist unerwünscht. Die Nazis diffamieren sie als "jüdische Asphaltliteratin", ihre Bücher werden verbrannt. 1938 wird sie ausgebürgert. Letztlich ein Glück – so überlebt die Jüdin den Holocaust. Und setzt ihre Karriere in den USA fort.

Marlene Dietrich: cool und verführerisch, selbstbewusst und geheimnisvoll

"Marlene hatte andere Pläne… denn vor dem ersten Kinderschrei’n muss ich mich erstmal selbst befrei’n", röhrt 1978 Nina Hagen ins Mikrofon. Sie spielt auf Marlene Dietrich an, die schon in den 1920er Jahren Hosenanzug trägt, verführerisch-cool mit Zigarette posiert und im Film "Marokko“ (1930) in Männerkleidung eine Frau küsst. Die selbstbestimmte "Neue Frau" in Reinkultur. Aber auch sie verlässt Deutschland - freiwillig. Nach dem riesigen Erfolg des auf Deutsch und Englisch gleichzeitig gedrehten Films "Der blaue Engel" zieht es sie Anfang der 1930er Jahre nach Hollywood. Den Nazis, die um sie buhlen, zeigt sie die kalte Schulter. Von Paris aus hilft Marlene Dietrich Flüchtlingen, aus Nazi-Deutschland zu entkommen, 1939 nimmt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an und begleitet im Zweiten Weltkrieg US-Truppen an die Front.

Androgyn, sexy, selbstbewusst: die Schauspielerin und Sängerin Marlene DietrichBild: imago

Die junge Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl nutzt dagegen ehrgeizig die Chancen, die die Nazis ihr bieten. Sie stellt ihr Talent in den Dienst der braunen Machthaber und dreht filmisch wegweisende Filme für sie - unter anderem den Propagandafilm "Triumph des Willens", der die Olympischen Spiele 1936 in Berlin glorifiziert.

Gretel Bergmann und Lilli Henoch – erfolgreiche Sportlerinnen

Von einer Teilnahme an den Olympischen Spiele träumen auch die Hochspringerin Gretel Bergmann und die Berliner Turnerin und Leichtathletin Lilli Henoch. Henoch ist zwischen 1922 und 1926 zehnfache deutsche Meisterin in den Disziplinen Kugelstoßen, Diskuswurf, Weitsprung und der 4x100-Meter-Staffel, stellt vier Weltrekorde auf und spielt hervorragend Hockey und Handball. Die Turnlehrerin leitet in ihrem Berliner Sportclub BSC die Damenabteilung. Aber sie ist Jüdin. Angebote, als Trainerin in die USA zu gehen, lehnt sie wegen ihrer Familie ab. An den Olympischen Spielen 1936 darf sie nicht teilnehmen. 1942 wird sie nach Riga deportiert und in einem Waldgebiet erschossen. Gretel Bergmann, ebenfalls Jüdin, ist 1936 in Berlin auch nicht dabei. Obwohl sie die Konkurrenz dominiert, darf statt ihr ein als Frau verkleideter Mann im Hochsprung-Wettbewerb starten. Ihre Geschichte erzählt der Film "Berlin 36" von 2009. Gretel Bergmann hat ihre sportliche Karriere schließlich in den USA fortgesetzt und lebt noch heute dort. Im April 2016 ist sie 102 Jahre alt geworden.

Vielfache Meisterin in Turnen und Leichtathletik: Lili Henoch (re.) beim StaffellaufBild: picture-alliance/dpa/Zentrum deutsche Sportgeschichte Berlin-Brandenburg e.V./PA Martin-Heinz Ehlert


Endlich Bubikopf

Meine Oma starb 2008 mit 94 Jahren. Sie hat fünf deutsche Staaten erlebt, ihren Mann und den Bruder im Krieg verloren und ist mit ihrer Tochter aus der DDR geflüchtet.Die Geschichte mit dem Bubikopf erzählte sie mir immer wieder. Wie sie sich eines Tages an den Abendbrottisch setzte und alle sehen konnten: Die Zöpfe sind ab. Sie hatte sich die Haare einfach schneiden lassen, ohne zu fragen. Ihr Vater sprach tagelang nicht mit ihr. Aber ich hörte an ihrer Stimme, dass sie noch als alte Frau stolz auf ihren jugendlichen Mut war. Eine Eigenschaft, die sie ihr Leben lang begleitete.

Die Haare sind ab! Anna Martha Unger, die Großmutter der Autorin, um 1930Bild: privat

Zum Start der Photokina 2016 ist die Ausstellung "Annelise Kretschmer – Entdeckungen. Photographien 1922 - 1975" vom 16. September bis zum 8. Januar 2017 im Käthe Kollwitz Museum Köln zu sehen. Weitere Stationen der Ausstellung sind das Paula Modersohn-Becker Museum in Bremen (12. Februar bis 21. Mai 2017) sowie die Städtische Galerie Iserlohn (2018).

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