Im Schatten des weiter andauernden Krieges in der Ukraine bemüht sich Deutschland verstärkt um Unabhängigkeit von russischem Gas. Kann jetzt das hierzulande lange verpönte Fracking ein Teil der Lösung werden?
Anzeige
Die hohen Temperaturen in Deutschland mögen zwar anhalten, doch ohne russisches Gas - das bis zum Beginn des Ukraine-Kriegs mehr als 50 Prozent des Jahresbedarfs abdeckte - ist die Wärmeversorgung in diesem Winter schon jetzt ein dringliches Problem.
Für den Fall, dass die russischen Lieferungen ausbleiben, gibt es bereits Pläne die Lücke zu schließen: Gesteigerter Import von Flüssiggas (LNG), die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Kohlekraftwerke und sogar die Aussetzung des Atomausstiegs.
Am überraschendsten ist jedoch das Interesse an der Erschließung heimischer Schiefergasvorkommen durch Fracking, eine Praxis, die in Deutschland und in zahlreichen anderen europäischen Ländern aufgrund ihrer möglichen Umwelt- und Klimaauswirkungen grundsätzlich verboten ist.
Dennoch fordern Mitglieder der deutschen Regierungskoalition, dass Fracking als mögliche Lösung für die drohende Gaskrise in Betracht gezogen wird.
Deutschland liebt Gas, aber ohne Fracking
In Deutschland werden bereits die zum Transport von Flüssiggas benötigte Infrastruktur und Terminals gebaut. Das Flüssiggas aus den Vereinigten Staaten stammt hauptsächlich aus Fracking-Quellen. Dies ist das Ergebnis des im März geschlossenen Gasabkommens zwischen der EU und den USA, obwohl die größte europäische Volkswirtschaft im Jahr 2017 das Fracking von Schiefergas im eigenen Land verboten hat.
Dieses Verbot, das eigentlich 2021 geprüft werden sollte, aber nach wie vor gilt, bezieht sich auf tief liegende "unkonventionelle" Schiefergasvorkommen, die nur durch Hydraulic Fracturing bzw. Fracking gewonnen werden können.
Dabei wird eine aus Wasser, Sand und Chemikalien bestehende Fracking-Flüssigkeit bis zu fünf Kilometer tief in die Erde gepresst, um das Gestein aufzubrechen und Gas zu fördern. Das Verfahren verbraucht riesige Mengen an Wasser und riskiert eine Kontaminierung des Grundwassers, das aufgrund der anhaltenden Trockenheit in Deutschland ohnehin schon zurückgegangen ist.
Außerdem entweicht beim Fracking das Treibhausgas Methan, dessen Auswirkungen auf die Erderwärmung über einen Zeitraum von 20 Jahren mehr als 80 Mal höher sind als die von CO2, so Sascha Boden, Energie- und Klimareferent bei der Nichtregierungsorganisation Environmental Action Germany.
Der Austritt von Methan aus Zehntausenden von Bohrlöchern im Permian Basin in den US-Bundesstaaten Texas und New Mexico hat beispielsweise zur Entstehung einer "Klimabombe" beigetragen, die jegliche Klimaschutzmaßnahmen zunichte macht.
Die Förderung von Gas in "konventionellen" und leichter zugänglichen Sandsteingasflözen ist in Deutschland jedoch unter strengen Auflagen erlaubt und deckt derzeit etwa fünf Prozent des Bedarfs ab - wobei Kritiker sagen, dass die Fördermethode dem Fracking ähnelt und lediglich als konventionell bezeichnet wurde, um zu suggerieren, dass "gutes" Fracking möglich sei.
Deutsches Schiefergas kommt vor allem in den nordwestlichen Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen vor und hat laut Angaben des Deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) das Potenzial, die drei- bis zwanzigfache Menge (zwischen 320 und 2.030 Milliarden Kubikmeter) von herkömmlichem Gas zu liefern.
Nach Schätzungen des Bundesverbandes Erdgas, Erdöl und Geoenergie (BVEG) könnten Schiefergasvorkommen 20 Prozent des derzeitigen Bedarfs decken. Für Sascha Boden ist aber nur die Hälfte davon wirtschaftlich sinnvoll, etwa wegen der hohen Kosten für die Bohrinfrastruktur.
"Das reicht kaum aus, um Deutschland von russischem Gas unabhängig zu machen", sagte er.
Fracking spaltet die Koalition
Eine kürzlich durchgeführte Umfrage in Deutschland ergab, dass nur 27 Prozent der Befragten Fracking als kurzfristige Energielösung befürworten - im Vergleich zu 81 Prozent, die sich für einen Ausbau der Windenergie aussprechen.
"Deutschland ist dicht besiedelt, und die Erschließung der erforderlichen mehreren zehntausend Bohrlöcher wäre ohne massiven Widerstand nahezu unmöglich", so Boden.
Solche Ansichten halten die wirtschaftsorientierte Partei FDP - die ein Drittel der deutschen Regierungskoalition stellt - nicht davon ab, über Fracking als Ausweg aus der Krise zu diskutieren.
"Fracking verursacht nach modernen Sicherheitsstandards keine relevanten Umweltschäden", kommentierte Torsten Herbst, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP, im Juni in einem Interview mit der Welt am Sonntag.
Er fügte hinzu, es sei widersprüchlich, den Import von Fracking-Gas aus den USA zu unterstützen und gleichzeitig Fracking im eigenen Land abzulehnen.
Holger Weiß, Mitglied des Sachverständigenausschusses des Deutschen Bundestages für diese Technologie, sagte der Sonntagsausgabe der FAZ, dass Fracking "heutzutage mit einem vertretbaren Restrisiko durchgeführt werden kann".
Robert Habeck, deutscher Vizekanzler und Mitglied der Grünen, widerspricht seinen Koalitionspartnern, die Fracking als mögliche Lösung für die Energiekrise sehen. "Die Debatte über Fracking nützt uns im Moment überhaupt nichts", sagte er im Juli und begründete dies unter anderem mit den Schwierigkeiten, eine Genehmigung zu bekommen.
Kjell Kühne, Klimaaktivist und Direktor der in Deutschland ansässigen Leave it in the Ground Initiative, bezeichnete den neuen Fracking-Vorstoß als "opportunistisch".
"Es würde mehrere Jahre dauern, um in Deutschland Fracking-Gas aus dem Boden zu holen", sagte er. "Fracking wird weder in diesem noch im nächsten Winter etwas bewirken."
Bild: Zehntausende von Fracking-Bohrungen haben dazu beigetragen, dass im Permian Basin in Texas eine Art "Klimabombe" entstanden ist.
Anzeige
Eine andere Lösung: Erneuerbare Energien und Energieeinsparung
Als Reaktion auf die Fracking-Befürworter wird der Ruf nach einem schnelleren Übergang zu erneuerbaren Energien lauter.
"Entscheidend für den Gasausstieg sind Energieeinsparungen und eine Umstellung auf erneuerbare Wärme", sagte Gerald Neubauer von Greenpeace Deutschland und fügte hinzu, dass Gasheizungen zugunsten einer "massiven Ausbaukampagne für Wärmepumpen, Solarthermie und Hausdämmung" verboten werden sollten.
Der am 9. August in Kraft getretene Gas-Notfallplan der Europäischen Union sieht vor, den Gasverbrauch in den nächsten neun Monaten um 15 Prozent zu senken.
"Wir haben eine klare Aufgabe: Wir müssen den Energieverbrauch auf allen Ebenen senken", sagt Robert Habeck.
Unterdessen herrscht unter deutschen Klimaschützern eine noch breitere Ablehnung von Fracking.
"Die Gasindustrie nutzt den russischen Angriffskrieg skrupellos aus, um ihre Interessen durchzusetzen und noch mehr Profit zu machen", sagte Charly Dietz von der deutschen Klimaaktivistengruppe Ende Gelände, die in der vergangenen Woche den Bau eines Terminals in Hamburg blockierte, über das Fracking-LNG-Gas geliefert werden soll.
Atomkraft in Deutschland - eine Hassliebe
Erst wurde sie in Deutschland gefeiert, dann verdammt und schließlich verbannt: Die Atomenergie feiert dennoch ein kurzfristiges Comeback - mangels Gas aus Russland. Ein Blick auf ihre wechselhafte Geschichte.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Ein "Atom-Ei" als erster Reaktor
Die erste nukleare Anlage Deutschlands geht Ende Oktober 1957 in Garching bei München in Betrieb. Das wegen seiner Form benannte "Atom-Ei", das zur Technischen Universität München gehört, wird zum Wahrzeichen der Kernforschung und des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2000 wird der Forschungsreaktor abgeschaltet. Er genügt nicht mehr den wissenschaftlichen Anforderungen.
Bild: Heinz-Jürgen Göttert/dpa/picture-alliance
Start der zivilen Nutzung der Atomenergie
Drei Jahre nach Inbetriebnahme des "Atom-Eis" startet die zivile Nutzung der Kernenergie: Das erste Atomkraftwerk erzeugt in Kahl am Main ab 1961 Elektrizität. Es folgen leistungsstärkere Kraftwerke wie Gundremmingen (Foto), dass 1966 den Betrieb aufnimmt. Die friedliche Nutzung der Atomenergie gilt als sicherer Beitrag zur Energiegewinnung - noch.
Bild: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance
Beginn der Anti-Atomkraft-Bewegung
1973 verleiht der Schock über die Ölkrise der Atompolitik weiteren Auftrieb. Doch der Zeitgeist wandelt sich. In der Bevölkerung werden die Zweifel an der angeblich sauberen Energie immer lauter. Es wächst der Widerstand. Bei Protesten gegen das schleswig-holsteinische AKW Brokdorf liefern sich von 1976 an Demonstranten und Polizisten mehrfach bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen (Foto 1981).
Bild: Klaus Rose/imago images
Symbol des Atomkraft-Widerstands
Hinter dem Slogan "Atomkraft? Nein Danke" mit der lachenden Sonne vor gelbem Hintergrund können sich alle deutschen Umweltschützer versammeln. Ab Mitte der 70er Jahre ist das Logo bei den Anti-Atom-Demonstrationen omnipräsent. Die Idee dazu stammt aus Dänemark, von einer Studentin der Wirtschaftswissenschaften. Der Slogan wird zum weltweiten Export-Schlager.
Bild: Tim Brakemeier/dpa/picture-alliance
Der Schock nach Harrisburg und Tschernobyl
Die Ängste vor der nukleare Bedrohung werden grausame Realität: Am 28. März 1979 ereignet sich im AKW Three Mile Island bei Harrisburg in den USA ein schwerer Atomunfall. Sieben Jahre später, am 26. April 1986, kommt es zur weltweit schwersten Havarie in Tschernobyl in der Ukraine (Foto). Eine radioaktive Wolke zieht über Europa. Tschernobyl wird zum Symbol für die atomare Gefahr.
Bild: Zufarov/AFP/Getty Images
Geburt einer neuen Partei
1980 entsteht in Westdeutschland eine neue Partei: die Grünen. Gegründet wird sie von Linken, Friedensbewegten, Umweltschützern und Atomkraft-Gegnern. Den Einzug in den Bundestag feiern die Grünen Gert Bastian, Petra Kelly, Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf (von links) Ende März 1983 mit einem Marsch zum Parlament in Bonn. Der Kampf gegen die Atomkraft ist einer ihrer Schwerpunkte.
Bild: AP/picture alliance
Wackersdorf: Tragödie, aber auch Triumph
Im bayerischen Wackersdorf soll die zentrale Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Kernreaktor-Brennstäbe entstehen. Bei Krawallen im Frühling 1986 kommen mehrere Demonstranten und ein Beamter ums Leben, hunderte Menschen werden verletzt. Ende Mai 1989 wird der Bau der Anlage eingestellt. Ein erster Triumph für die deutsche Umweltbewegung.
Bild: Istvan Bajzat/dpa/picture alliance
Protest gegen Endlager
Das niedersächsische Gorleben wird zum Symbol für den Kampf um die Atommüllentsorgung. Hier soll der radioaktive Müll der nächsten Jahrzehnte gelagert werden, bis es ein Endlager gibt. Am 24. April 1995 rollt der erste Transport an. Umweltschützer organisieren Straßenblockaden, Aktivisten fesseln sich an die Schienen. Ende November 2011 erreicht der letzte Atommüll-Behälter Gorleben.
Bild: BREUEL-BILD/picture alliance
Rot-grün plant den Ausstieg
Die Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten (SPD) und Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (r) setzte 2001 den Ausstieg aus der Kernenergie durch. Alle 19 deutschen Kernkraftwerke sollten bis 2021 abgeschaltet werden. Im Jahr 2010 hob die Nachfolge-Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel die Vereinbarung auf und beschloss, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.
Bild: picture alliance
Wendepunkt Fukushima
Jahrzehntelang protestieren Umweltschützer in Deutschland gegen Atommeiler. Doch für nachhaltige Konsequenzen wird nach Harrisburg und Tschernobyl erst eine weitere Nuklearkatastrophe sorgen: Der GAU (größter anzunehmender Unfall) im japanischen Kernkraftwerk Fukushima am 11. März 2011. Viel mehr als in Japan selbst hat die Nuklear-Katastrophe Konsequenzen für die deutsche Atompolitik.
Bild: NTV/NNN/AP/dapd/picture alliance
Merkel treibt Energiewende voran
Einen Monat nach Fukushima verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurzfristig und für einige Beobachter überraschend die Energiewende. Bis Ende 2022 sollen alle deutschen Kernkraftwerke stillgelegt sein. Am 30. Juli 2011 bewilligt der Bundestag in Berlin in einer namentlichen Abstimmung (Foto) das neue Energiegesetz.
Bild: Michael Kappeler /dpa/picture alliance
Atommeiler wird stillgelegt
Viele Jahre lang gab es um das Kernkraftwerk Brokdorf besonders heftige Auseinandersetzungen. Jetzt - nach knapp 35 Jahren Betriebszeit - wird es Ende 2021 abgeschaltet. Der Druckwasserreaktor mit einer Leistung von rund 1400 Megawatt lieferte seit 1986 Strom. Ein Mitarbeiter prüft nochmal das Kontroll- und Steuerungspult im Leitstand des Kernkraftwerks.
Bild: Christian Charisius/dpa/picture alliance
Jubel über das Ende der Kernenergie
Die Atomkraftgegner sind am Ziel und feiern den Ausstieg mit Wunderkerzen. Sie stehen vor dem Kernkraftwerk Grohnde. Nach rund 37 Jahren Laufzeit ist die niedersächsische Anlage endgültig vom Netz gegangen.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Trügerische Idylle
Dort, wo sich früher militante Aktivisten mit Polizisten prügelten, grasen heute friedlich Schafe. Das Gelände des stillgelegten AKW Brokdorf wirkt wie eine Idylle. War es das nun mit der Atomkraft? Nein. Denn Deutschland will sich aus der Energieabhängigkeit Russlands befreien und nicht mehr Präsident Putin ausgeliefert sein, der den Gashahn nach Belieben auf- oder zudreht.
Bild: Georg Wendt/dpa/picture alliance
Ausstieg vom Ausstieg spaltet die Ampelkoalition
Deshalb diskutiert die Bundesregierung lange über eine Verlängerung der Laufzeiten der drei verbliebenen Kernkraftwerke. Doch es gibt Streit. Finanzminister Christian Lindner (FDP) befürwortet eine Kernenergie-Renaissance. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) will nur zwei AKW bereithalten und einen Weiterbetrieb bis Mitte April nur bei Bedarf ermöglichen.
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Ein Machtwort des Kanzlers
Der Streit zwischen FDP und Grünen wird zur Zerreißprobe für die Bundesregierung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) macht erstmals seit Antritt der Ampel-Koalition von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Seine Entscheidung: Die Atomkraftwerke sollen bis maximal Mitte April kommenden Jahres weiterlaufen können. Über eine entsprechende Gesetzesänderung wird der Bundestag entscheiden.