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Frankreichs Atombomben für Europa: Was Macron wirklich will

Andreas Noll
15. Mai 2025

Vor 60 Jahren präsentierte Frankreichs erstmals seine Atomraketen. Heute will Präsident Macron damit nicht nur Frankreich, sondern auch Europa schützen. Doch sein Angebot ist politisch aufgeladen - und voller Hürden.

Französisches Atom-U-Boot "Le Triomphant"
Abschreckung heute: französisches Atom-U-Boot "Le Triomphant" Bild: Barbier/AFP/epa/dpa/picture-alliance

Paris, 14. Juli 1965: Nationalfeiertag in Frankreich. Zwischen Kavallerie, Marschmusik und Panzerkolonnen fährt plötzlich etwas Ungewöhnliches über die Prachtstraße der französischen Hauptstadt: Atomraketen auf mobilen Startrampen. Darüber donnern Mirage-Bomber. Zum ersten Mal präsentiert Frankreich der Weltöffentlichkeit seine nukleare Abschreckung - die Force de Frappe.

In den folgenden Jahrzehnten wird sie zum strategischen Herzstück der französischen Verteidigungspolitik - rein national kontrolliert, vollständig unabhängig. Die Bombe verschafft Frankreich nicht nur einen festen Platz im exklusiven Club der Nuklearmächte, sondern auch ein machtpolitisches Werkzeug. Doch sie ist teuer: Über zehn Prozent des Verteidigungshaushalts fließen jährlich in ihren Erhalt und die Modernisierung - eine erhebliche Belastung angesichts der hohen französischen Staatsverschuldung.

Frankreichs Abschreckung: souverän, minimal, defensiv

Die Nukleardoktrin der Force de Frappe (Französische Atomstreitmacht) hat sich seit Charles de Gaulle kaum verändert. Sie dient dem Schutz der "vitalen Interessen" Frankreichs - ein bewusst vager Begriff, der im Ernstfall auch europäische Partner einschließen kann, aber nicht muss. Der Einsatz von Atomwaffen ist laut Doktrin nur in extremen Fällen der Selbstverteidigung vorgesehen. Die Entscheidung liegt allein beim Präsidenten der Republik.

Abschreckung damals: Frankreichs Premierminister Jacques Chirac vor taktischen Atomraketen vom Typ Pluton (1975)Bild: AFP/Getty Images

Französische Staatschefs, von de Gaulle bis Nicolas Sarkozy, haben mehrfach betont, dass diese vitalen Interessen auch eine europäische Dimension besitzen. Doch ihre Aussagen blieben symbolisch. Ein echter Wille zur Teilung der Bombe war zumindest öffentlich nicht zu erkennen. Bis Emmanuel Macron kam.

Macrons Zeitenwende

Seit seinem Amtsantritt 2017 hat Macron Frankreichs Nuklearstrategie nicht verändert - aber europäisch aufgeladen. In einer Grundsatzrede an der École de Guerre im Februar 2020 erklärte er, dass die französische Abschreckung auch Europas Sicherheit diene und bot einen strategischen Dialog mit europäischen Partnern an. In Berlin wurde das weitgehend ignoriert, aus Sorge, das US-amerikanische Schutzversprechen für Europa zu untergraben.

Auftritt zur besten Sendezeit: Präsident Macron gibt im TV Auskunft über seine NuklearpläneBild: Jacques Witt/SIPA/picture alliance

Doch nun ändert sich der Ton: "Frankreich hat das Angebot gemacht, wenigstens darüber zu reden - ein solches Angebot nehme ich an", erklärte Friedrich Merz kurz nach seiner Vereidigung zum Bundeskanzler. Merz kann sich vorstellen, den US-amerikanischen Schirm durch französische und britische Raketen zu ergänzen: "Wir können den nuklearen Schutz der Vereinigten Staaten innerhalb des NATO-Bündnisses nicht aus eigener Kraft in Europa ersetzen", so der Kanzler. Ob die Force de Frappe im Notfall auch als Ersatz für den US-Schirm in Frage käme, lässt Merz bislang offen.

Was Frankreich konkret anbietet

Frankreich schlägt keine gemeinsame europäische Atombombe vor - aber eine abgestufte nukleare Mitverantwortung. Im Zentrum steht Macrons Angebot eines strategischen Dialogs: Europäische Partner sollen eingeladen werden, die in "strategischer Ambiguität" formulierte französische Nukleardoktrin besser zu verstehen, an Szenarien mitzudenken und an Manövern in einer Beobachterrolle teilzunehmen. Bereits 2024 nahm ein italienisches Tankflugzeug an einer französischen Übung teil.

Will Gespräche mit Frankreich über Atomwaffen: Bundeskanzler Friedrich Merz (li.)Bild: Sean Gallup/Getty Images

Die lange theoretische Debatte wird aber zunehmend greifbarer. So erklärte Macron in einem Fernsehinterview am Dienstag, Polen habe den Wunsch geäußert, französische Atomwaffen auf seinem Staatsgebiet zu stationieren - analog zur nuklearen Teilhabe in Deutschland, wo US-Atombomben im rheinland-pfälzischen Büchel lagern, die im Ernstfall von Bundeswehr-Jets ins Ziel geflogen werden. Er sei bereit, über eine Ausweitung des französischen Atomschirms zu sprechen "mit allen Partnern, die dies wünschen". Macron schloss dabei zum ersten Mal öffentlich die Stationierung französischer Atomwaffen in anderen EU-Ländern nicht aus.

Doch wie Frankreichs führender Sicherheitsexperte Bruno Tertrais analysiert, steckt in Macrons Offenheit ein stilles Signal: "Solange die US-Atomwaffen in Europa stationiert sind, gibt es aus französischer Sicht keinen Grund, überhaupt darüber zu diskutieren, ob französische Bomben in Deutschland oder anderswo lagern sollten."

Trotzdem arbeitet Frankreich bereits daran, seine nukleare Infrastruktur stärker auf Europa auszurichten. In Luxeuil-Saint Sauveur, nur 100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, wird in den kommenden Jahren ein Militärstützpunkt als Atomwaffenbasis für Rafale-Kampfjets modernisiert. Ein Signal, dass Frankreich seine nukleare Handlungsfähigkeit nicht nur erhalten, sondern gezielt ausbauen will und die Force de Frappe näher an Mitteleuropa heranrückt.

Was das Projekt bremst

Derzeit verfügt Frankreich über rund 300 nukleare Sprengköpfe. Sie sind ausreichend für die nationale Abschreckung, aber nicht für ein gesamteuropäisches Schutzsystem. Die Trägersysteme, U-Boote mit ballistischen Raketen und luftgestützte Systeme sind auf französische Einsatzprofile zugeschnitten.

Frankreichs Atomwaffen – Schutz für ganz Europa?

05:08

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"Ich will eine Debatte führen, aber Frankreich wird nicht für die Sicherheit der anderen zahlen", stellt der französische Präsident nun klar. "Es wird nicht zu Lasten dessen gehen, was wir für uns selbst brauchen. Und die endgültige Entscheidung liegt beim Präsidenten der Republik, dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte." Die implizite Botschaft: Eine glaubwürdige Erweiterung des französischen Abschreckungsschirms erfordert höhere Kapazitäten - mehr Trägersysteme, zusätzliche Infrastruktur, intensivere Übungen. Frankreich kann das leisten, ist aber nicht bereit, es allein zu finanzieren. Wer mitgeschützt werden will, muss sich beteiligen - politisch, logistisch, finanziell.

Eine Kontrolle oder Mitentscheidung der Partner über den Atomwaffen-Einsatz schließt Macron allerdings kategorisch aus. Doch das ist bei der aktuell vorhandenen Nuklearen Teilhabe kaum anders. In der Nuclear Planning Group (NPG) der NATO wird beraten, aber nicht entschieden. Die finale Einsatzentscheidung liegt allein beim US-Präsidenten und damit aktuell bei Donald Trump.

Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz: Hier lagern aktuell etwa 20 US-amerikanische AtomwaffenBild: Thomas Frey/dpa/picture-alliance

Historische Parallelen

Die aktuelle Atomdebatte kennt ein historisches Vorbild: In den 1960er-Jahren gab es in Washington Pläne für eine multilaterale Atomstreitmacht (MLF) - eine NATO-Flotte mit gemeinsamen Atomwaffen. Charles de Gaulle lehnte das Projekt ab und warb in Bonn für eine Alternative: "Sie glauben doch wohl nicht, dass die Amerikaner Ihnen einen wirklichen Einfluss bei der MLF einräumen werden. Warum beteiligen Sie sich nicht bei uns?" soll der französische Präsident 1964 dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts gesagt haben. Doch weder die MLF noch eine deutsch-französische Nuklearkomponente wurde je verwirklicht.

Am 14. Juli 1965 präsentierte Frankreich der Weltöffentlichkeit eine rein nationale Atomstreitmacht. Ob die Force de Frappe 60 Jahre später europäischer wird, liegt nicht nur an Paris, sondern auch an Berlin, Warschau - und Washington.

Warum Deutschland nie eigene Atomwaffen hatte

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