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GesellschaftEuropa

Das Aufbegehren der Sexarbeiterinnen

Stephanie Burnett DH
17. April 2021

Vor fünf Jahren hat Frankreich den Kauf sexueller Dienstleistungen verboten - nicht aber das Angebot. Das Gesetz sollte Sexarbeiterinnen schützen. Die Erfolgsbilanz ist mau. Nun wollen sich Betroffene wehren.

Frankreich | Sexarbeit | Protest in Paris
Sexarbeiterinnen protestieren in Paris Mitte April gegen ein Gesetz, das sie eigentlich schützen sollteBild: Ait Adjedjou Karim/Avenir Pictures/ABACA/picture alliance

Cybele Lesperance ist aufgebracht. Die 39-jährige Kanadierin, die in einer Kleinstadt im Südosten Frankreichs wohnt, ist eine von Dutzenden Demonstrierenden, die an diesem Dienstag im April in ganz Frankreich auf die Straße gehen. Die Frauen und Männer protestieren gegen ein Gesetz, das sie eigentlich schützen sollte: 2016 beschloss das Parlament in Paris, den Kauf sexueller Dienstleistungen zu verbieten. Es sollte jedoch weiterhin legal bleiben, solche Dienste anzubieten. Die Befürworterinnen und Befürworter dieser Maßnahme feierten den Beschluss damals als großen Erfolg. Neben dem Schutz von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern würde schließlich die Prostitution bekämpft und der Menschenhandel unterbunden werden. Mit bis zu 4000 Euro sollten Verstöße geahndet werden.

Für Cybele Lesperance und ihre Mitstreiter steht nach fünf Jahren jedoch fest: Die Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter wurden in ihren Positionen nicht gestärkt sondern geschwächt: "Es gibt Freier, die sagen: 'Ich nehme das Risiko auf mich und begebe mich in die Illegalität, also solltest du deine Konditionen verbessern.' Oder sie setzen uns unter Druck indem sie uns vorhalten, dass wir ohnehin gerade weniger Kundschaft haben", so die Kanadierin im DW-Gespräch. Ein Ende der prekären Lage sei nicht in Sicht. Schon wegen Corona gäbe es weniger Freier und diejenigen, die den Gesetzesverstoß in Kauf nähmen, würden häufiger risikoreiche sexuelle Praktiken oder günstigere Tarife einfordern.

Die Demonstrierenden fordern, das Gesetz zurückzunehmenBild: Karim Ait Adjedjou/Avenir Pictures/abaca/picture alliance

Kaum Strafen gegen Verstöße 

Mit der Bewertung des Gesetzes stehen Lesperance und die anderen Demonstrierenden nicht alleine da. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der renommierten Sciences Po in Paris stellten im Dezember 2020 fest, dass sich das Machtverhältnis zwischen Prostituierten und Freiern radikal zu Ungunsten der Prostituierten gewandelt hat. Das Forscherteam stellte dem Gesetz daher das Prädikat "ungenügend" aus.

Die Risiken für die Frauen sind hoch: Vanesa Campos, eine 36-jährige Sexarbeiterin, wurde 2018 nahe Paris erschossen.Bild: Christophe Petit Tesson/MAXPPP/dpa/picture alliance

Die Nationalratsabgeordnete Annick Billon von der zentralistischen UDI sagte der DW, es habe seit 2016 lediglich rund 5000 Geldstrafen wegen Verstößen gegen Gesetz gegeben: "Eine sehr kleine Zahl, wenn man bedenkt, dass die geschätzte Zahl der Prostituierten im Land bei rund 40.000 liegt." Es sei vor allem Geld nötig um das Gesetz zu einem Erfolg werden zu lassen: "Man müsste viel mehr Polizeikräfte und Sozialarbeiter anstellen, man müsste viel mehr Geld in die Hand nehmen um Prostituierte bei Behördengängen zu unterstützen, um sie zu beschützen, um ihnen Möglichkeiten an die Hand zu geben, sich weiterzuentwickeln." Vor allem aber, so das nüchtere Fazit der 53-jährigen Parlamentarierin, mangele es am politischen Willen, Dinge entschieden zu verändern: "Wenn wir in Frankreich denselben Willen hätten, Prostituierten zu helfen, wie gegen Drogenbanden vorzugehen, wären wir zweifellos schon viel weiter."

Schlechtes Vorbild Schweden

Um zu verstehen, wie es in Frankreich 2016 überhaupt zu dem Gesetz kommen konnte, hilft der Blick nach Schweden. 1999 hatte das skandinavische Land als erste Nation der Welt den Kauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe gestellt, nicht aber dessen Verkauf. Knapp elf Jahre später, im Jahr 2010, zog man in Stockholm eine positive Bilanz: Die Straßenprostitution im Land sei um die Hälfte reduziert worden, "eine direkte Konsequenz dieses Gesetzes", so die offizielle Verlautbarung der Regierung.

Gibt nicht auf: Cybele Lesperance zieht vor das Europäische Gericht für MenschenrechteBild: Clément Léotard

Widerspruch gegen die schwedische Lobhudelei ließ nicht lange auf sich warten. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter betonten, sie hätten ihre Dienstleistungen lediglich von der Straße weg verlegt oder seien in die Illegalität ausgewichen, die Schwedische Vereinigung für Sexualerziehung stellte der Wirkung des Gesetzes 2015 ein "schwaches" Zeugnis aus. Ähnlich wie die gemeinnützige Organisation aus Stockholm analysierte auch Jay Levy die Lage. Der Wissenschaftler erforscht an der Universität Cambridge unter anderem die Auswirkung der Gesetzgebung auf Sexarbeit. Er ist der Meinung, das skandinavische Land sollte für andere Länder eher ein abschreckendes Beispiel sein: "Mit dem Ziel, Prostitution im Land zu verringern, ist man in Schweden komplett gescheitert. Durch das Abdrängen in die Illegalität hat man eigentlich das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte."

Klage wegen Menschenrechtsverletzung

Die Hoffnungen von Cybele Lesperance und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern richten sich nun auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Nachdem eine Klage gegen das Gesetz im Jahr 2019 am höchsten französischen Gericht gescheitert war, haben sich Lesperance und mehr als 260 weitere Frauen und Männer aus den unterschiedlichsten Ländern an das EGMR gewandt. Für die 39-Jährige ist das Gesetz, das sie eigentlich schützen sollte, ein "Verbrechen gegen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter". Mit ihrem Gang nach Straßburg wollen sie und die anderen ein klares Zeichen an andere europäische Länder senden und endgültig beweisen, dass "uns durch dieses Gesetz fundamentale Menschenrechte verwehrt werden".

Aus Sicht von Amnesty International stehen die Erfolgschancen dafür nicht schlecht. Die Menschenrechtsorganisation hatte schon 2016 erklärt, dass es nicht ausreiche, nur Gesetze zurückzunehmen, die den Verkauf sexueller Dienstleistungen unter Strafe stellten. Um die Rechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern zu schützen, "müssten auch die Gesetze zurückgenommen werden, die den einvernehmlichen Erwerb sexueller Dienstleistungen zwischen Erwachsenen unter Strafe stellen".

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