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PolitikEuropa

Frankreich: Harkis wollen Wiedergutmachung

Lisa Louis Paris
13. Oktober 2021

Algerische Hilfskräfte kämpften an der Seite der Franzosen im Algerienkrieg. Doch am Ende des Konflikts hat Frankreich sie im Stich gelassen. Jetzt hat Präsident Macron sich entschuldigt - doch das reicht manchen nicht.

Frankreich Paris | Harki Serge Carel mit Bildern aus seiner Zeit in Algerien
Bild: Lisa Louis/DW

Als der gebürtige Algerier Serge Carel in den 1950er Jahren anfing, für die französische Kolonialarmee in Algerien tätig zu sein, war er unheimlich stolz. "Meine gesamte Familie arbeitete damals für die Franzosen  wir haben Frankreich immer geliebt. Es wäre für mich wie Verrat gewesen, mich der algerischen nationalistischen Befreiungsfront FLN anzuschließen. Außerdem hätte ich dann vielleicht auf meine Familienmitglieder schießen müssen", sagt Carel in einem Gespräch mit der DW, während er in einem Sessel in seinem Haus etwa 50 Kilometer südlich von Paris sitzt.

Damals hoffte er, dass er eine neue, französische Identität würde annehmen könnte, indem er seine algerischen Wurzeln hinter sich ließ. Und so wurde er ein sogenannter Harki (Haraka, Arabisch: Bewegung), eine Hilfskraft der französischen Kolonialarmee.

Doch er ahnte nicht, wie viel Leid diese Entscheidung über sein Leben bringen würde. Auch die kürzlich erste offizielle Entschuldigung durch den französischen Präsidenten Emmanuel Macron bei Hilfskräften wie ihm, konnte dieses Leid nur teilweise mindern.

Serge Carel, der ehemalige Harki, mit Bildern aus seiner Zeit in Algerien.Bild: Lisa Louis/DW

Harkis wurden als Verräter gesehen 

Der damals 20-Jährige arbeitete als Übersetzer und Geheimdienstler. "Ich war Teil der Vorhut - auch, weil ich mich gut auskannte", erinnert sich der heute 84-Jährige, und zeigt ein paar vergilbte Fotos von sich in Uniform. Der Algerien-Krieg dauerte von 1954-1962. Als Frankreich nach dem Ende des Krieges 1962 nach über 130 Jahren Kolonialherrschaft das nordafrikanische Algerien verließ, überließ es die meisten Harkis ihrem Schicksal.

Sie waren alleine in einem Land, das sie als Verräter sah. Nach Angaben von Historikern sollen bis zu 400.000 Hilfskräfte tätig gewesen sein. Nur etwa 40.000 wurden nach Frankreich gebracht. Weitere rund 40.000 schafften es alleine übers Mittelmeer. Dort landeten Zehntausende in sogenannten Transitcamps. In den Camps herrschten verheerende Lebens- und Hygienebedingungen. Vielen der Camp-Bewohner fiel es auch später noch schwer, sich zu an ihr neues Leben in Frankreich zu gewöhnen.

Hunderttausende Harkis arbeiteten im Algerien-Krieg für die französische KolonialarmeeBild: AFP/dpa/picture-alliance

2018 verurteilte Frankreichs Oberstes Gericht erstmals den französischen Staat zu einer Entschädigungszahlung an den Sohn eines Harkis, der in einem solchen Camp aufwachsen musste - wegen der psychologischen Spätfolgen, die durch die "unwürdigen" Lebensumstände dort entstanden seien.

Die Nationalisten "wollten Rache"

Viele der Harkis, die in Algerien zurückblieben, landeten in der Gefangenschaft der Nationalisten. "Die Franzosen hatten uns die Waffen weggenommen. Was Frankreich getan hat, war eine Schande. Und der FLN wollte Rache", erklärt Carel. Auch ihn ergriffen die Nationalisten. Sie brachten ihn in eine Scheune in einem Dorf und folterten ihn dort täglich. "Sie hatten schon einige meiner Kameraden getötet, und ich wusste, dass ich bald an der Reihe sein würde", erinnert er sich.

"Doch ich hatte den Eltern einem meiner Wärter das Leben gerettet, und er gab mir eine Chance zu fliehen." Carel schaffte es nach Algier, wo ihn seine Tante und Cousine für einige Zeit versteckten. Dann fuhr er mit dem Schiff nach Frankreich. Er kam in Marseille an und fuhr dann mit dem Zug weiter nach Paris.

Einfach sollte das Leben für ihn auch in Frankreich aber nicht werden. Aus Sicherheitsgründen änderte er seinen richtigen Namen in seinen jetzigen französischen Namen. "Auf der Polizeiwache sagte mir ein Beamter, dass ich die französische Staatsbürgerschaft, die die Armee mir damals gegeben hatte, verloren hatte", sagt er. "Ich antwortete: 'Als Frankreich uns Harkis brauchte, waren wir Franzosen. Nun, da Frankreich uns nicht mehr braucht, sind wir keine Franzosen mehr?‘." 

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron entschuldigte sich bei den ehemaligen Harkis und ihren Angehörigen und ehrte Salah Abdelkrim (links)Bild: Gonzalo Fuentes/Reuters/AP/picture alliance

Frankreich bittet um Vergebung

Die ersten paar Monate entlud er Waggons am Bahnhof. Nachts schlief ich in einem von ihnen, denn der Lohn reichte nur gerade so für Nahrungsmittel. "Ich habe aus eigener Kraft eine Karriere in Frankreich aufgebaut und es später sogar zum Manager in einer internationalen Geldtransportfirma gebracht. Aber der bittere Nachgeschmack bleibt. Es war so enttäuschend, dass Frankreich mich damals nicht unterstützt hat – nach allem, was ich durchgemacht hatte", sagt er.

Zumindest einen Teil dieser Enttäuschung will Präsident Emmanuel Macron nun wiedergutmachen – unter anderem mit seinen Worten bei der Zeremonie vor kurzem im Elysée-Palast, bei der auch Carel anwesend war.

"An die Kämpfer, die wir im Stich gelassen haben. An die Familien, die dann in Camps und Gefängnisse geschickt wurden. Nach all unserer Verleugnung von Schuld bitte ich Sie um Vergebung. Wir werden dies nicht vergessen", sagte der Präsident. Dann versprach er ein Gesetz der "Anerkennung und Entschädigung", das ab Dezember durchs Parlament gehen und bis Februar abgesegnet sein soll.

Serge Carel musste immer erst die Lage prüfen - er war Teil der Vorhut Bild: Lisa Louis/DW

Doch die Details des neuen Gesetzes sind noch nicht bekannt. Und Gilles Manceron, ein Pariser Historiker, der sich auf Kolonialgeschichte spezialisiert hat, bezweifelt, dass das Gesetz viel ändern wird. "Nicht nur die Harkis, sondern auch ihre Kinder und Enkel sind traumatisiert", erklärt er der DW. "Für sie ist es zentral, dass alle erfahren, was ihnen widerfahren ist. Bisher haben französische Politiker oft Dinge über die Harkis behauptet, die einfach nicht stimmen. Diese Geschichte muss richtiggestellt werden. Das würde den Harkis und ihren Familien zumindest ein Stück weit Seelenfrieden bringen."

Carel: Entschuldigung ist ein wichtiger Schritt - doch nicht genug

Für Carel ist es dennoch ein wichtiger Schritt, dass Macron nun offiziell um Verzeihung gebeten hat. "Bisher hat sich kein anderer französischer Präsident bei uns entschuldigt. Er ist uns mit offenen Armen entgegengetreten, und natürlich werden wir ihn dann nicht zurückweisen", erklärt Carel. Für ihn war es übrigens nicht das erste Mal, dass er Präsident Macron getroffen hat. Die Kommode in seinem Haus ist mit Fotos der beiden verziert. Daneben liegen zahlreiche Medaillen - unter anderem die Légion d'honneur, Frankreichs höchstes Verdienstkreuz.

Serge Carel hatte Emmanuel Macron auch schon vorher getroffen - nicht erst bei der jüngsten Veranstaltung Bild: Lisa Louis/DW

Doch Medaillen und Worte sind Carel nun nicht mehr genug. "Wir müssen es schwarz auf weiß haben, dass wir Franzosen sind. Ich erinnere mich immer noch daran, dass sie damals unseren Pass mit den Buchstaben "FM" gestempelt haben: muslimische Franzosen. Das tut noch immer weh. Warum haben sie uns so behandelt? Wir sind französischer als manch anderer Franzose", sagt er und wischt sich die Tränen aus den Augen.

Carel will auch, dass Frankreich den Harkis Entschädigungszahlungen leistet und andere Leistungen erbringt, wie zum Beispiel kostenlose Kranken- und Altenpflege. Das sei das Mindeste, was das Land tun könne. "Es ist alles Frankreichs Schuld. Frankreich hat seine Kinder verstoßen und sie so dem fast sicheren Tod überlassen", sagt er.

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