Frankreich rüstet sich für eine weitere Nacht mit Protesten
29. Juni 2023Von Donnerstag auf Freitag sollen in ganz Frankreich 40.000 Polizisten im Einsatz sein und damit mehr als vier Mal so viele wie am Mittwoch. Das kündigte Innenminister Gerald Darmanin nach einer Krisensitzung des Kabinetts in Paris an. Allein 5000 Polizisten sollen im Großraum Paris im Dienst sein. "Der Staat muss entschlossen reagieren", sagte Darmanin. Am Mittwoch waren nach seinen Angaben landesweit 9000 Beamte im Einsatz.
Auslöser der Ausschreitungen waren der 17-jährigen Nahel M. Der Jugendliche war am Dienstag auf dem Fahrersitz eines Autos bei einer Verkehrskontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre erschossen worden. Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren gegen den Polizisten wegen des Verdachts des Totschlags ein. Der Einsatz der Waffe bei der Kontrolle sei nicht gerechtfertigt gewesen, hieß es von der Staatsanwaltschaft. Der 38-Jährige ist in Untersuchungshaft.
Inzwischen sind weitere Einzelheiten des Todesfalls bekannt geworden. Eine Motorradstreife hatte den Jugendlichen am Steuer eines Autos gestoppt. Ein Video zeigt, wie der Polizist seine Waffe bei der Kontrolle auf Höhe der Fahrertür in das stehende Auto richtete. Die Situation scheint unter Kontrolle, hektische Bewegungen sind nicht zu erkennen. Als der 17-Jährige plötzlich losfährt, feuert der Beamte aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust. Das Auto fuhr dann noch einige Meter weiter und rammte eine Straßenabsperrung.
Mutter ruft zu Trauermarsch auf
Nach dem Tod des Jugendlichen haben Hunderte Menschen auf einem Trauermarsch Gerechtigkeit für den 17-Jährigen gefordert. Bei dem Umzug in Nanterre trugen viele Teilnehmer weiße T-Shirts mit der Aufschrift "Gerechtigkeit für Nahel" und Schilder, auf denen "Die Polizei tötet" zu lesen war. Die Mutter des Jugendlichen saß auf dem Dach eines Autos im Zentrum des Marsches durch den Vorort von Paris. Der auf Initiative der Familie organisierte Umzug verlief zunächst friedlich, der Bürgermeister der Stadt hatte zur Ruhe aufgerufen.
Krawalle breiten sich aus
In der Nacht zum Donnerstag hatten sich die Ausschreitungen verstärkt und auf weitere Städte in Frankreich ausgeweitet. Nach Angaben des Innenministers ab es 150 Festnahmen. Auf Twitter sprach er von einer "Nacht der unerträglichen Gewalt gegen Symbole der Republik". Es seien Schulen, Rathäuser und Polizeistationen in Brand gesteckt oder angegriffen worden, erklärte der Innenminister auf Twitter.
Unter anderem in Lille, Nantes, Toulouse und Lyon versammelten sich Menschen, um zu protestieren. Mülltonnen, Autos, ein Bus und ein Lastwagen, Baumaschinen und selbst eine Pariser Straßenbahn wurden in Brand gesetzt.
Alleine im Pariser Vorort Nanterre wurden 2000 Beamte mobilisiert, um erneute heftige Ausschreitungen wie am Vorabend einzudämmen. Dort bewarfen Demonstranten Polizisten mit Feuerwerkskörpern und setzten Autos in Brand. Im Großraum Paris gab es mindestens 35 Festnahmen, eine Grundschule ging in Flammen auf. Auch die Haftanstalt in Fresnes nahe der Hauptstadt wurde mit Feuerwerkskörpern angegriffen. Die Pariser Feuerwehr rief die Bevölkerung auf, den Notruf angesichts der Lage nur in dringenden Fällen zu nutzen.
Im südfranzösischen Nizza wurden zwei Polizeiwachen und Streifenwagen mit explodierenden Feuerwerkskörpern angegriffen. Randalierer errichteten Barrikaden und legten Feuer. In Mons-en-Baroeul bei Lille in Nordfrankreich verwüsteten Vermummte ein Bürgermeisteramt, im nahen Roubaix wurde eine Polizeiwache angegriffen.
Zu Zusammenstößen kam es auch in der südwestfranzösischen Stadt Toulouse, wo mehrere Autos angezündet wurden und Polizisten und Feuerwehrleute mit Gegenständen beworfen wurden, wie aus Polizeikreisen verlautete. Ähnliche Szenen meldeten die Behörden aus Lyon und Dijon.
19-Jähriger Mann aus Guinea tot
Unterdessen wird auch im Südwesten Frankreichs ein Polizist des Totschlags beschuldigt. Er soll bei einer Verkehrskontrolle am 14. Juni einen tödlichen Schuss auf einen 19-Jährigen aus Guinea abgegeben haben, wie die Staatsanwaltschaft von Angoulême mitteilte. Der 52 Jahre alte Polizist sei in Gewahrsam genommen worden. Ersten Ermittlungsergebnissen zufolge wollte sich der junge Mann bei der Kontrolle einer Festnahme entziehen. Er traf den Polizisten am Bein, als er den Rückwärtsgang einlegte. Daraufhin gab der Beamte den Schuss ab.
Die jüngsten gewaltsamen Proteste markieren eine neuerliche innenpolitische Krise in Frankreich. Staatspräsident Emmanuel Macron hat gerade erst ein halbes Jahr voller heftiger Demonstrationen wegen seiner umstrittenen Rentenreform hinter sich.
Erinnerungen an Unruhen von 2005
Die Szenen rufen in Frankreich auch Erinnerungen an 2005 wach: Damals hatten nach dem Unfalltod von zwei Jugendlichen auf der Flucht vor der Polizei schwere Unruhen eingesetzt. "Alle Zutaten" für eine mögliche "erneute Explosion" seien da, sagte ein Regierungsberater, der namentlich nicht genannt werden wollte, der Nachrichtenagentur AFP.
Rechtsgerichtete Politiker forderten, wie 2005 den Notstand auszurufen. Dieser würde es örtlichen Behörden etwa erlauben, Schauplätze von Krawallen zu Sperrgebieten zu erklären. Bisher hat die Regierung dies aber abgelehnt. In Frankreich wird immer wieder übermäßige Polizeigewalt angeprangert - vor allem in den ärmeren Vororten rund um die Großstädte, in denen Menschen verschiedener ethnischer Herkunft leben. Nach Verkehrskontrollen starben im vergangenen Jahr 13 Menschen, so viele wie noch nie. Menschenrechtsgruppen beklagen systematischen Rassismus bei der Polizei und in anderen Strafverfolgungsbehörden.
kle/fab/sti/djo (afp, rtr, dpa)