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PolitikNahost

Nahost: Populistische Polemik und politische Interessen

4. November 2020

Im Streit um die Äußerungen des französischen Präsidenten zum Islam haben einige arabische Kommentatoren scharfe Töne gewählt, trotz Terror und Eskalation. Allerdings sind nicht alle Kritikpunkte von der Hand zu weisen.

Türkei Istanbul | Proteste gegen Frankreich
Bild: Emrah Gurel/AP/picture alliance

Für den Publizisten Abdel Bari Atwan ist die Sache klar: Der französische Präsident, schrieb der Chefredakteur des viel gelesenen, in London herausgegebenen pan-arabischen Online-Magazins "Rai Al-Youm" noch Ende Oktober, müsse Abbitte gegenüber zwei Milliarden Muslimen leisten. Schließlich habe Emmanuel Macron mit seiner Position im Karikaturenstreit deren Gefühle verletzt. Nun stünden diese rund zwei Milliarden Muslime bereit, um ihren Glauben zu verteidigen.

"Zusammenfassend erklären wir, dass Macron eine große Sünde gegenüber dem Islam und den Muslimen begangen hat." Auf Grundlage von Rassimus und politischer Kurzsichtigkeit habe Macron einen Spalt zwischen Frankreich und der islamischen Welt gerissen, den zu überwinden Jahre dauern werde. "Der erste und wichtigste Schritt dahin ist eine klare und eindeutige Bedauernsäußerung." 

Anti-französische Proteste in GazaBild: Mohammed Salem/Reuters

Polemischer Tonfall

Frankreich gegen zwei Milliarden Muslime? Dass nicht alle Menschen islamischen Glaubens einen solchen Protest mittragen dürften, kommt Bari Atwan offenbar nicht in den Sinn. Zwei Tage zuvor hatte der Kolumnist bereits die Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty mit einer ganz eigenen Lesart der französischen Politik in Libyen in Zusammenhang gebracht: Gewiss, der Mord sei furchtbar, räumte Bari Atwan ein. Aber hätten die Franzosen 2011 nicht auch einen muslimischen Präsidenten einer Schar junger Männer vorgeworfen und ihnen erlaubt, diesen zu töten? Bari Atwan sprach von Muammar al Gaddafi, den er ausdrücklich als "muslimischen" Präsidenten bezeichnet.

Wie und in welchem Ausmaß solche Kommentare die Stimmung unter arabischen Mediennutzern beeinflussen, kann nur vermutet werden. Kritik an Frankreich findet sich freilich auch in anderen Blättern, wenngleich nicht immer derart polemisch. So kritisierte kürzlich auch der Journalist Khalil al-Anani von der ebenfalls in London herausgegebenen Online-Zeitung "Al-araby al-jadeed" Frankreichs Außenpolitik im Nahen Osten insgesamt. Allerdings versagte er sich, seine Kritik gleich mit der Vorstellung eines französisch-islamischen Kulturkampfes zu verbinden. Stattdessen prangerte er Macron als westlichen Unterstützer arabischer Diktatoren an.

Unterstützung autoritärer Regime

Macron, schrieb al-Anani, sei ein Händler des Krieges, ein Mäzen in Diensten autoritärer arabischer Regime, und zwar "der gewalttätigsten und tyrannischsten überhaupt". Der französische Präsident, so al-Anani weiter, investierte in die Kriege der Region, " und zwar vor allem in jene, die arabische autoritäre Fundamentalisten entffachen, sei es außerhalb ihrer eigenen Grenzen wie es die Vereinten Arabischen Emirate (VAE) und Saudi-Arabien im Jemen und in Libyen tun; oder in solche, die diese Regime gegen ihre eigenen Bürger führen, wie in Ägypten oder in Syrien." Außerdem mache sich Frankreich durch anhaltende Waffenverkäufe in die Region schuldig, allen voran an Saudi-Arabien.

Handschlag mit einem autoritären Herrscher: Macron und der ägyptische Staatspräsident al-SisiBild: Getty Images/AFP/L. Marin

So engagiert die Kritik auf den ersten Blick daher kommt, so Interessengebunden dürfte sie sein: "Al-Araby Al-Jadeed" wird von katarischen Investoren finanziert. Katar ist ein Verbündeter der Türkei und hat seit Jahren ein angespanntes Verhältnis zu Saudi-Arabien, den VAE und Ägypten, die Katar seit Sommer 2017 wirtschaftlich und politisch boykottieren. Ähnlich wie der ebenfalls katarisch finanzierte Sender Al-Jazeera ist "Al-Araby Al-Jadeed" dafür bekannt dafür, mit Katar und der Türkei im Streit liegende Länder wie Ägypten und Saudi-Arabien besonders kritisch in den Blick zu nehmen, während Kritik an politischen Entwicklungen oder Menschenrechtsverletzungen in Katar selbst meist unerwähnt oder zumindest deutlich unterbelichtet bleibt.   

Steigende Waffenexporte

Unabhängig davon, hat die Kritik an Frankreichs Außen- und Waffenexport-Politik im arabischen Raum jedoch einen wahren Kern, der freilich auch für andere, keineswegs nur westliche Länder gilt: Die europäischen Länder - und damit auch Frankreich - sind tatsächlich an mehreren Konflikten in der arabischen Welt direkt oder indirekt beteiligt. Das "Stockholm International Peace Research Institute" (SIPRI) veröffentlichte vor einigen Monaten eine Studie zu weltweiten Waffenexporten. Demnach sind die USA, Russland, Frankreich, Deutschland und China die weltweit größten Waffenexporteure. Und: Im Zeitraum zwischen 2015-19 gingen 35 Prozent aller Waffenexporte weltweit in den Nahen Osten. 

Frankreich steigerte in diesem Zeitraum laut Studie seine Ausfuhren gegenüber den vorhergehenden fünf Jahren sogar um 72 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland erhöhte seine Ausfuhr im gleichen Zeitraum um 17 Prozent. "Die französische Waffenindustrie hat von der Nachfrage nach Waffen in Ägypten, Katar und Indien profitiert", erklärte damals SIPRI-Forscher Diego Lopes Da Silva. 

Insbesondere die europäischen Waffenexporteure gehen, ungeachtet ethischer Fragen, mit ihren Geschäften auch ein erhebliches politisches Risiko ein. Sie unterstützen Regierungen, die teils auf erhebliche Repression gegenüber der eigenen Bevölkerung setzen. Offen ist, wie lange diese Regierungen den Druck aufrechterhalten können. Wie riskant diese Strategie ist, darauf wiesen erst Ende Oktober knapp 280 europäische - auch französische - Parlamentarier in einem Offenen Brief an den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi hin, in dem dieser zur Freilassung politischer Kritiker und Menschenrechtler aufgefordert wurde. Sicherheit durch Unterdrückung gewährleisten zu wollen, sei ein falscher Ansatz. "Die Sicherheit, die die Regierung anstrebt, ist darum höchst brüchig", sagte die FDP-Bundestagsabgeordnete Gyde Jensen, Unterzeichnerin des Briefs, der DW.

Bei dem Konflikt geht es auch um Libyen und die dortigen FlüchtlingeBild: epa/dpa/picture alliance

 
Kopftuchstreit unter Diplomaten

Tatsächlich fließen aus Frankreich und Europa Waffen in eine Region, in der sich arabische und weitere Staaten der Region wie der Iran und die Türkei in unterschiedlichen Konstellationen gegenüber stehen oder - wie in Libyen - in Stellvertreter-Konflikten verstrickt sind. Die Grenzen zwischen militärischer und propagandistischer Kriegsführung erscheinen mitunter fließend.

So hat auch der Vorwurf des türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan, Frankreich betreibe eine aktive "Islam-Feindlichkeit", eine ebenso diplomatische wie militärische Vorgeschichte. Sie reicht zum einen auf eine vergleichsweise harmlos erscheinende Episode vom Frühjahr 2018 zurück. Damals weigerten sich die Ehefrauen dreier türkischer Diplomaten, sich zum Zweck einer Registrierung in Frankreich ohne Kopftuch fotografieren zu lassen. Die Auseinandersetzung zog ein kleinteiliges diplomatisches Kräfteringen nach sich, das erst 14 Monate später durch einen Besuch des französischen Außenministers Yves Le Drian in Ankara beendet wurde.

Doch war dieser Streit nur ein kleines atmosphärische Hintergrundrauschen zu der eigentlichen Auseinandersetzung zwischen Frankreich und der Türkei. Die fand und findet bis heute in Libyen statt und betrifft neben der Sicherung strategischer Einflusszonen und dem Zugang zu Energieressourcen auch Sicherheitsfragen sowie die europäische Flüchtlingspolitik. Die französische Regierung, schreibt der Geograph Laurent Chalard vom "European Centre for International Affairs" in einer im französischen "Figaro" veröffentlichten Analyse, sei besorgt um die Auswirkungen der Libyen-Krise in den südlichen Anrainerstaaten, vor allem in Mali. Dort zirkulierten bereits jetzt viele Waffen, die Frankreichs frühere Kolonie samt Nachbarn in weitere Instabilität stürzen könnten. 

Diese Entwicklung, so die Sorge in Paris, könnte womöglich weitere Migrationsbewegungen in Richtung Libyen auslösen, die sich dann nach Europa fortsetzten. Diese Entwicklung wolle Frankreich durch die Schaffung stabiler Verhältnisse vor Ort unterbinden und setzt dabei auf andere politische Kräfte vor Ort als Ankara - nämlich auf Kräfte wie General Khalifa Haftar, die auch von Ägypten und den VAE unterstützt werden, während die Türkei aktiv die Gegenseite unterstützt. Vor allem aus diesem Grunde sei Paris mit der Türkei aneinandergeraten, so der französische Experte. "Sollte die Türkei sich in diesem Spiel durchsetzen, könnte sie Europa mittels der Flüchtlinge erpressen und damit zusätzlichen Druck gegenüber den in der Flüchtlingsfrage uneinigen Europäern verleihen", umreißt Chalard die Sorgen der französischen Regierung. 

Tabu und Lethargie 

"Die Europäer sind aus ihrer Lethargie gegenüber China erwacht", sagte ein namentlich nicht genannter französischer Diplomat dem "Figaro". "Aber sie haben noch nicht ihre Naivität gegenüber der Türkei abgelehnt." Auch darum fordere Paris innerhalb der EU eine "tabulose" Diskussion über ihr Verhältnis zur Türkei. Es sind vermutlich auch solche Äußerungen, die Erdogan und seine publizistischen Verbündeten im arabischen Raum gegen Frankreich in Stellung bringen. 
 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika