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PolitikFrankreich

Frankreichs Juden: "Wahl zwischen Pest und Cholera"

Sarah Judith Hofmann
5. Juli 2024

"Nazijäger" Serge Klarsfeld will lieber rechts wählen als das linke Bündnis und ist damit nicht allein. Viele Juden in Frankreich fragen sich: Wie stehen das rechte und das linke Lager zu Israel und Antisemitismus?

Rassemblement National gegen Antisemitismus: Marine Le Pen, Jordan Bardella und Sebastien Chenu bei einer Demo in Paris
Die Spitze des Rassemblement Nationale: Im November liefen Marine Le Pen (Mitte) und Jordan Bardella (rechts im Bild) bei einer Demonstration gegen Antisemitismus mitBild: Bourguet Philippe/BePress/ABACA/picture alliance

Eines stellt der Oberrabbiner von Lyon gleich zu Beginn klar: Er rate niemandem in seiner Gemeinde dazu, Frankreich zu verlassen. Dies sei doch das Ziel von Antisemiten: Den Juden zu sagen, sie seien Fremde in Frankreich, die dorthin gehen sollten, "wo sie hergekommen seien". Wanderten Juden aber nach Israel aus, so Rabbi Daniel Dahan, würden sie als 'Kolonialisten' beschimpft. 

Nein, Dahan rät den Mitgliedern seiner Gemeinde dazu, in Frankreich zu bleiben und sich für die Demokratie einzusetzen, auch wenn dies aktuell nicht leicht falle. Anders als der Rabbiner der großen Synagoge von Paris, der kürzlich erklärt hatte, er empfehle französischen Juden, nach Israel auszuwandern. 

Eines aber macht Dahan mit Blick auf die von Emanuel Macron kurzfristig ausgerufenen Neuwahlen zum Parlament auch deutlich: Es sei eine Wahl zwischen "Pest und Cholera". Denn das linke Parteienbündnis Nouveau Front Populaire (NFP) werde von "wilden Antisemiten" angeführt. Und wer glaube, der Rassemblement Nationale (RN) sei besser, sitze einer Illusion auf.

Daniel Dahan ist Oberrabbiner von Lyon. Seine Gemeinde ist die drittgrößte jüdische Gemeinde FrankreichsBild: privat

Eine der prominentesten jüdischen Stimmen, die erklärt hatten, lieber die Rechtspopulisten von Marine Le Pen und Parteichef Jordan Bardella als das linke Bündnis zu wählen, war der frühere "Nazijäger" Serge Klarsfeld. Er hatte vor Jahrzehnten Täter des Holocaust wie Klaus Barbie, den "Schlächter von Lyon", aufgespürt. Seine Argumentation: Die Linken sprächen dem jüdischen Staat das Existenzrecht ab, der RN aber verteidige Israel.

Für Israel = gegen Antisemitismus?

In der Tat stellt Marine Le Pen sich seit einiger Zeit als Verteidigerin Israels dar. Den Terrorangriff vom 7. Oktober, bei dem auch mindestens vierzig französische Staatsbürger getötet wurden, verurteilte sie als "Pogrom" und sagte, Israel müsse es erlaubt sein, die Hamas "auszumerzen". Als Ende November in Paris eine große Demonstration gegen Antisemitismus stattfand, lief sie ganz vorne mit und sagte: "Wir sind da, um uns gegen den Antisemitismus zu stellen, um unsere jüdischen Mitbürger zu unterstützen und um den Fundamentalismus zu bekämpfen."

Auch Serge und Beate Klarsfeld waren da. Serge Klarsfeld, dessen Vater in Auschwitz ermordet wurde. Und seine Frau Beate, die 1968 den damaligen deutschen Kanzler Kurt-Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit ohrfeigte. Sie scheinen dem RN abzunehmen, dass sich die Partei geändert habe. Und Rabbi Dahan weiß, damit sind sie nicht allein. Viele in seiner Gemeinde, so berichtet er, überlegten, für Bardella zu stimmen. Selbst der jüdisch-französische Philosoph Alain Finkielkraut hatte sich ähnlich geäußert.

Eine Partei, die noch unter dem Namen "Front National" als dicht verwoben mit antisemitischen Burschenschaften und Vereinen war. Gründer Jean-Marie Le Pen wurde mehrfach wegen Holocaustleugnung, Verherrlichung von Kriegsverbrechen und rassistischer Aussagen vor französischen Gerichten zu Geldstrafen verurteilt. In der Öffentlichkeit machte er immer wieder sexistische, homophobe, rassistische und antisemitische Äußerungen. Seine Tochter hingegen versucht, allzu klar menschenverachtende Aussagen im RN zu verhindern und bürgerlich zu erscheinen. Ihren Vater schloss sie vor Jahren aus der Partei aus. Und doch: Bei etwa hundert aktuellen Kandidaten des RN für die Parlamentswahlen fanden Journalisten Zeugnisse von Homophobie, Islamophobie oder Antisemitismus.

Populistischer Stimmenfang in den Banlieues

Eine "eindeutige Neo-Nazi-Partei, faschistisch, rassistisch und antisemitisch" nennt der Schriftsteller Hubert Haddad den Rassemblement National. Die Partei sei "extrem gefährlich nicht nur für Juden", sie bekämpfe die humanistischen Werte Frankreichs. Aufgewachsen ist Haddad in einer Banlieue von Paris als Sohn jüdischer Einwanderer, die nach der Staatsgründung Israels vor antijüdischen Pogromen in Tunesien fliehen mussten. Die aktuelle Situation empfindet der Intellektuelle als Wiederkehr einer nationalistischen Stimmung, wie sie in Frankreich schon Ende des 19. Jahrhunderts geherrscht habe, als sich rassistisch begründeter Antisemitismus in Frankreich und Europa ausbreiteten.  Minderheiten würden in politisch aufgewühlten Zeiten immer wieder zu Sündenböcken gemacht. Aktuell spiele – so sieht es auch Rabbi Dahan – der Rassemblement National vor allem Juden und Migranten aus muslimischen Ländern gegeneinander aus.

Marine Le Pen, so hob kürzlich ein Sprecher der französischen Regierung hervor, trete nur dann für jüdische Bürgerinnen und Bürger ein, wenn sie von Islamisten bedroht würden. Bei rechtsextremen Überfällen schweige Le Pen – obwohl diese noch immer die überwiegende Zahl der rassistischen und antisemitischen Überfälle in Frankreich ausmachen.

Im Mai wurde in Paris die "Wand der Gerechten" des Pariser Holocaust-Mahnmals mit roten "blutigen" Händen beschmiert. Der Präsident des französischen Zentralrats der Juden verurteilte dies als antisemitischBild: Ait Adjedjou Karim/ABACA/picture alliance

Beide Minderheitengruppen gegeneinander auszuspielen, sei jedoch auch ein Mechanismus von Jean-Luc Mélenchons Partei "La France Insoumise" (deutsch: Unbeugsames Frankreich), so Haddad. Die Linkspopulisten nutzten die wegen des Gazakriegs aufgeheizte Stimmung in den Banlieues aus, um mit simplen Slogans, in denen Israel "Apartheid" und "Genozid" vorgeworfen wird, auf Stimmenfang zu gehen. Letzteres wird vom Internationalen Gerichtshof untersucht, nachdem Südafrika Klage gegen Israel eingereicht hatte, es begehe in Gaza einen Völkermord gegen die Palästinenser.

Vermischung von Israels Regierungsverantwortung und Juden

Die Wut über den Krieg in Gaza könne er nachvollziehen, so Haddad, doch sie sollte sich gegen Netanjahus Regierung richten und nicht gegen die Juden. Genau mit dieser unzulässigen Vermischung aber spielten Politikerinnen wie Rima Hassan, ist auch Rabbi Dahan überzeugt.

Die EU-Abgeordnete mit palästinensischen Wurzeln hatte Ende November in einem Interviewformat, bei dem sie entweder "richtig" oder "falsch" antworten sollte, die Frage, ob die Hamas eine legitimes Ziel verfolge, mit "richtig" kommentiert. Ob Israel ein Recht auf Selbstverteidigung habe? "Falsch". In den Sozialen Medien machte ein Auszug aus dem Interview die Runde. Hassan entgegnete, die Antworten seien aus dem Kontext gerissen worden. Sie habe an anderer Stelle den Angriff der Hamas auf Israel verurteilt.

Kurz nach den Terrorangriff vom 7. Oktober auf Israel wurden in Paris etliche Wände mit Davidsternen beschmiert. Viele Juden in der Hauptstadt fühlten sich nicht mehr sicher, berichtet Hubert Haddad und hätten ihre Mesusot, sichtbares Zeichen für jüdische Bewohner an Türpfosten, entferntBild: Geoffroy Van Der Hasselt/PantherMedia/picture alliance

Der Oberrabbiner von Lyon glaubt ihr das nicht. Sie spiele bewusst mit der Ambiguität von Aussagen. Mehrfach habe sie deutlich gemacht, dass ihrer Meinung nach Palästina "vom Fluss bis ans Meer" befreit werden müsse. "Für Israel und Juden ist da kein Platz", ist er sich sicher. Kein Wort der Anteilnahme habe sie geäußert nachdem ein zwölfjähriges Mädchen in einem Vorort von Paris mutmaßlich von beinah gleichaltrigen Jungen vergewaltigt worden war, nachdem diese herausgefunden hatten, dass das Mädchen Jüdin ist. Für Hassan sei das Massaker vom 7. Oktober "ein Akt des Widerstandes", so Dahan. Dass die Sozialdemokraten (Parti Socialiste, PS) und die Grünen mit den Linkspopulisten von La France Insoumise ein Bündnis eingegangen seien, könne er nicht begreifen.

Namensgeber: Die Volksfront von Léon Blum 

Der Schriftsteller Haddad sieht das anders. Das neu gegründete Bündnis linker Parteien unter dem Namen Nouveau Front Populaire sei kein antisemitisches Bündnis, die Sozialisten und die Grünen hätten sehr wohl Kritik an Mélenchons populistischem Kurs geäußert. Der NFP stehe durchaus in der Tradition seiner Namensgeber.

Unter der Führung des jüdischen Franzosen Léon Blum hatte der "Front Populaire" 1936 eine Regierungskoalition gebildet, um dem aufsteigenden Faschismus in Europa entgegenzutreten. Aber auch damals habe es schon Antisemitismus unter Linken gegeben, so Haddad. Mélenchons Partei sei in der Tat eine Gefahr für Frankreich. Nicht nur für die Juden, betont er. Sondern für die freiheitlichen Werte der Republik, die sich stets auch am Umgang mit Minderheiten messe.

Jüdische Französinnen und Franzosen machen gerade einmal 0,6 Prozent der Bevölkerung aus. Wie sie abstimmen, wird den Wahlausgang nicht entscheiden. Doch die jüdische Gemeinschaft Frankreichs ist mit rund 440.000 Menschen die größte in Westeuropa. Viele Juden weltweit schauen derzeit nach Frankreich. "Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren", meint Rabbi Dahan. "Auch wenn viele von uns bereits auf gepackten Koffern sitzen."