Französische Unternehmen raus aus Russland?
29. März 2022Seine virtuelle Tour durch die Parlamente der USA, Großbritanniens oder auch Deutschlands in den vergangenen Wochen nutzte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor allem dazu, für mehr Waffenlieferungen und Unterstützung angesichts der russischen Invasion seines Landes zu werben. Bei seiner Videoschalte vor dem französischen Parlament vergangenen Mittwoch jedoch nahm er gezielt die französische Wirtschaft ins Visier.
"Französische Unternehmen sollten Russland verlassen", forderte der 44-Jährige, wie immer in khakifarbenem T-Shirt und mit der gelb-blauen ukrainischen Flagge im Hintergrund." [Der Autobauer] Renault, [die Supermarktkette] Auchan und [die Baumarktkette] Leroy Merlin müssen damit aufhören, die Sponsoren der Kriegsmaschine Russland zu sein! Werte sind wichtiger als Gewinne!" Dann rief er zum weltweiten Boykott Renaults auf. Der Autobauer kündigte daraufhin noch am Abend an, seine Aktivitäten in seinem einzigen Werk in Russland einzustellen. Außerdem will das Unternehmen seine 68-prozentige Beteiligung am russischen Hersteller Avtovaz - dem Eigentümer der traditionellen Marke Lada - "überdenken". Dabei ist die Schließung von Werken in Russland keine einfache Entscheidung und könnte für den Westen sogar kontraproduktiv sein, sagen nicht nur die Unternehmen selbst, sondern auch französische Ökonomen.
Französische Unternehmen sind Russlands größter ausländischer Arbeitgeber
"Wir haben die Situation seit Anfang des Einmarsches beobachtet, doch nun war es einfach nicht mehr vertretbar, unser Geschäft dort unverändert beizubehalten - auch, weil der Krieg sich wohl lange hinziehen wird", sagt ein Sprecher von Renault zu DW. Dabei habe diese Entscheidung tiefgreifende Konsequenzen: Die Unternehmensgruppe, die zu 15 Prozent dem französischen Staat gehört, hat ihre Gewinnprognose für dieses Jahr von vier auf drei Prozent gesenkt. Und das Schicksal der 45.000 Angestellten des Unternehmens vor Ort sei nun ungewiss, obwohl Renault zunächst deren Löhne weiter auszahlen wird.
Den Faktor Personal werden viele in Russland tätige französische Unternehmen bei ihrer Entscheidung, zu gehen oder nicht zu gehen, mit einbeziehen müssen. Denn französische Unternehmen sind laut Frankreichs Wirtschaftsministerium dort der größte ausländische Arbeitgeber: mit 500 Filialen in Sektoren wie Energie, Großhandel oder auch der Lebensmittelbranche und insgesamt 160.000 Angestellten. "Französische Unternehmen sind oft im beschäftigungsintensiven Servicesektor tätig - anders als deutsche oder italienische", sagt Julien Vercueil, auf Russland spezialisierter Ökonom und Vizepräsident des Nationalen Instituts für orientalische Sprachen und Zivilisationen in Paris, zu DW.
Enteignung würde Russland nützen
Das gilt auch für die Baumarktkette Leroy Merlin mit ihren rund 100 Standorten und etwa 45.000 Mitarbeitern in Russland. Weil das Unternehmen diese Aktivitäten bisher beibehält, erntet es nicht nur von Selenskyj scharfe Kritik: Es fanden Demonstrationen in Frankreich und Polen statt. Sogar die eigenen Mitarbeiter in der Ukraine forderten, nachdem bei einem Bombenangriff auf eine Filiale in der Hauptstadt Kiew acht Menschen getötet worden waren, in einer Online-Petition den sofortigen den Rückzug des Unternehmens aus Russland. Doch die Muttergesellschaft Adéo entgegnet in einer Pressemitteilung: "Wir haben eine Verantwortung gegenüber unseren Angestellten und deren Familien." Eine Schließung der russischen Läden wäre gar kontraproduktiv, heißt es: "Es wäre die vorprogrammierte Pleite, die zur Enteignung führen würde, was den Finanzen Russlands zuträglich wäre."
Rückzug wäre "immenses Geschenk für die Oligarchen"
Ähnlich argumentiert auch der Energiekonzern TotalEnergies - zwar nicht in Selenskyjs Rede erwähnt, aber ebenfalls in Russland tätig. "Wenn wir das Land verließen, wäre das ein immenses Geschenk für die Oligarchen", erklärt das Unternehmen gegenüber DW. TotalEnergies wird zwar ab Ende 2022 kein Öl mehr aus Russland beziehen. Russisches Gas will es aber, aus Mangel an Alternativen, weiterhin kaufen. Das macht mit 17 Prozent den größten Teil von TotalEnergies' weltweiten Gaseinkäufen aus. Der Energieriese will zudem seine Beteiligungen an rund einem halben Dutzend russischen Unternehmen in Höhe von 13 Milliarden Dollar beibehalten. Auch wenn er keine zusätzlichen Investitionen tätigen wird.
Diese Position hat unter anderem Yannick Jadot, Kandidat der Grünen bei den in wenigen Wochen anstehenden Präsidentschaftswahlen, angeprangert. Er beschuldigte TotalEnergies, "Komplize Putins und seiner Bombardierungen der Zivilbevölkerung zu sein". Worte, die den Geschäftsführer des Konzerns, Patrick Pouyanné, in einem Interview mit dem französischen Radiosender RTL aus der Haut fahren ließen: "Ich bin ein wütender Chef", sagte er. Jadots Behauptungen seien "extrem schwerwiegend" und "eine Beleidigung". Der Konzern hat den Grünen-Politiker inzwischen wegen Verleumdung verklagt.
Bisher sind europäische Unternehmen nicht durch die von der internationalen Staatengemeinschaft beschlossenen Sanktionen dazu verpflichtet, den russischen Markt zu verlassen. Und direkt eingreifen in deren Entscheidungen will die französische Regierung nicht. "Ich habe Unternehmen, die in Sektoren tätig sind, in denen Sanktionen gelten, angewiesen, sich daran zu halten, was Frankreich entscheidet. Aber meine Position ist, die Unternehmen selbst bestimmen zu lassen [ob sie weiter in Russland tätig sind]", sagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron jüngst beim Nato- und G7-Treffen in Brüssel.
Der Preis der europäischen Werte
Russlandspezialist Vercueil versteht, wie heikel das Thema ist. "Wenn Unternehmen, die vor Ort viele Leute beschäftigen, sich aus Russland zurückziehen, besteht das Risiko, dass Russlands Präsident Wladimir Putin das für seine Propaganda nutzt und sagt: 'Schaut, sie wollen Euch bestrafen - der Westen ist russenfeindlich'", sagt er. Das könnte dann die Bevölkerung sogar mit Putin zusammenschweißen.
Edouard Simon, Forschungsdirektor für Sicherheit und Europäische Verteidigung beim Pariser Institut für Internationale und Strategische Beziehungen, fügt dem hinzu, dass europäische und internationale Alliierte die Wirksamkeit der Sanktionen genau abwägen müssten. "Es ist ein schmaler Grat", erklärt er gegenüber DW. "Die Sanktionen müssen Russland mehr als Europa und Frankreich schaden." Deswegen sei zum Beispiel auch ein Energieembargo eine so schwierige Frage. "Es würde weitreichende ökonomische Konsequenzen in Europa haben. Und das wollen Regierungen verhindern, gerade die französische, in Zeiten des Präsidentschaftswahlkampfs", fügt Simon hinzu.
Olivier Marty, Dozent für europäische Ökonomie an der Pariser Universität Sciences Po, findet jedoch, der Westen müssen bereit sein, diesen Preis zu zahlen. Er verweist auf ein Paket an Ausgleichsmaßnahmen, das die französische Regierung vor kurzem beschlossen hat. Dazu gehören Subventionen für Energiekäufe und Kurzarbeit. "Zur Not müssen eben andere europäische Staaten auch solche Maßnahmen ergreifen", findet er im Gespräch mit DW. "Schließlich geht es um die Verteidigung europäischer Werte."