1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikNahost

Frauen in den Golfstaaten: Trotz Reformen bleibt viel zu tun

23. Dezember 2022

Trotz unübersehbarer Fortschritte sind die Rechte der Frauen in den arabischen Golfstaaten weiterhin eingeschränkt. Was wurde in Ländern wie Saudi-Arabien und Katar erreicht, was noch nicht? Ein Überblick.

Zwei arabische Zuschauerinnen miut saudischer Fahne bei der WM in Katar, Dezember 2022
Freude am Fußball: Zwei arabische Zuschauerinnen mit saudischer Fahne bei der WM in Katar, Dezember 2022 Bild: DW

2022 war für die Frauen in der Golfregion in vielerlei Hinsicht kein schlechtes Jahr. Zuletzt feuerten viele weibliche Fans ihre Lieblingsmannschaften bei der Fußballweltmeisterschaft an - live in den Stadien in Katar.

Und doch diskriminieren Saudi-Arabien, Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate Frauen oftmals weiterhin als Bürger zweiter Klasse. Grundlage der Diskriminierung sind ein oftmals nicht oder nur partiell modifiziertes autoritäres Vormundschaftssystem, strenge Gesetze gegen so genannten "Ungehorsam" und Regeln, um die Rechte unverheirateter Frauen einzuschränken. Ein Überblick über den Stand der Frauenrechte am Golf.

Saudi-Arabien

Bereits im April 2016 brachte Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) eine "Vision 2030" genannte gesellschaftliche und wirtschaftliche Neuordnung des Landes auf den Weg. Seitdem hat sich die Situation für Frauen deutlich verändert - zum Besseren ebenso wie zum Schlechteren.

Beispiel: Für ihr Engagement für das Recht von Frauen, einen Führerschein zu erwerben, saßen Aktivistinnen wie Ludschain al-Hathloul drei Jahre lang in Haft. Trotzdem trug ihr Engagement trug Früchte: 2018 wurde die entsprechende Gesetzgebung geändert. Dem Marktforschungsunternehmen Statista zufolge beantragten innerhalb von eineinhalb Jahren mehr als 175.000 Frauen allein in der Hauptstadt Riad einen Führerschein.

Auch andere Gesetze wurden seit 2018 geändert. So können Frauen nun ohne Zustimmung ihres männlichen Vormunds einen Reisepass beantragen und zumindest im Kreise von Freundinnen ins Kino oder auf Popkonzerte gehen.

"Und doch ist das System der Unterdrückung immer noch in Kraft", sagte Lina al-Hathloul, die Schwester der Frauenaktivistin Ludschain al-Hathloul und Leiterin des Kommunikations- und Monitoring-Teams der in London ansässigen Menschenrechtsorganisation ALQST.

So seien Mädchen und Frauen aufgrund des männlichen Vormundschaftssystems bei den meisten Entscheidungen immer noch auf die Zustimmung ihres männlichen Vormunds angewiesen, beklagt die Aktivistin gegenüber der DW.

Entsprechen sie nicht den Vorstellungen ihrer Vormünder - Väter, Ehemänner, Brüder oder sogar Söhne -, könnten diese die Frauen auf unbefristete Dauer in spezielle Heime schicken, berichtet Lina al-Hathloul.

Darüber hinaus ließen saudische Gerichte in diesem Jahr in drei Urteilen in verschiedenartigen Fällen große Unterschiede im strafrechtlichen Umgang mit Männern und Frauen zumindest erahnen.

So verurteilte ein Gericht in Medina im Januar 2022 den Staatsbürger Yasser M., der eine Frau verbal belästigt hatte, zu einer achtmonatigen Haftstrafe und einer Geldstrafe von umgerechnet 1265 Euro. Damit war Yasser M. zwar einer der ersten Fälle, die nach der Verschärfung der saudischen Gesetze gegen sexuelle Belästigung im Jahr 2019 verurteilt wurden. Doch vergleichen mit Strafen, die saudische Frauen für so genannte Meinungsdelikte erhielten, mutet die Strafe für den offiziell als Belästiger verurteilten Mann eher milde an.

Im Kontrast dazu verurteilte ein Gericht im August desselben Jahres die 34-jährige Doktorandin Salma al-Shehab zu satten 34 Jahren Haft. Nur einen Monat später schickte ein Richter eine weitere Bürgerin des Landes, Nourah bint Saeed al-Qahtani, sogar für 45 Jahre ins Gefängnis. Das Vergehen der beiden: Sie hatten Menschenrechtsaufrufe retweetet.

"Auf solche Entscheidungen reagieren die Menschen mit Angst. Sie wissen nicht mehr, wo die roten Linien gezogen sind", sagt al-Hathloul gegenüber DW.

Generell hätten die Emanzipationsbestrebungen der vergangenen vier Jahre nicht annähernd das erbracht, was saudische Frauen wirklich erstrebten. "Wir wollen ohne Angst leben und unsere eigenen Rechte einfordern können", so die Frauenrechts-Aktivistin.

Lizenz zum Fahren: Eine saudische Bürgerin am Steuer eines PKW nach Aufhebung des Fahrverbots für Frauen, 2018Bild: Yomiuri Shimbun/AP Images/picture alliance

Vereinigte Arabische Emirate

"Im vergangenen Jahr mussten saudische Frauenaktivistinnen rechtliche Konsequenzen sehr hart spüren. Etwas Ähnliches sieht man in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) nicht", sagt Julia Legner, Beraterin für Menschenrechte in Saudi-Arabien und der Golfregion mit Sitz in Berlin, gegenüber der DW.

Tatsächlich attestieren viele Aktivisten den VAE eine vergleichsweise positive Bilanzin Sachen Frauenrechte: Nachdem Gerichte die gesetzlichen Grundlagen der Frauenrechte zwischen 2015 und 2021 umfassend überarbeitet hatten, gelten die VAE heute als vergleichsweise liberal in Bezug auf die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen, insbesondere bei Unternehmerinnen.

Der diesjährige Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums setzte die VAE sogar auf den besten Platz innerhalb der arabischen Welt.

Allerdings gebe es zahlreiche Widersprüche, so Menschenrechts-Aktivistin Legner. "Diese Propaganda für die Gleichstellung der Frau steht in starkem Gegensatz zu den real bestehenden Gesetzen, die etwa dafür sorgen, dass Frauen, deren Vormund ihnen gewisse Dinge nicht zugestehen will, keine Chance haben, aus dieser Situation herauszukommen."

So muss etwa, wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in ihrem Weltbericht 2022 feststellte, der männliche Vormund einer Frau den Ehevertrag abschließen, damit diese heiraten kann. Männer können sich einseitig von ihren Frauen scheiden lassen. Frauen hingegen müssen einen Gerichtsbeschluss beantragen, um eine Scheidung zu erwirken.

Außerdem haben unverheiratete Frauen, die ein Kind zur Welt bringen, Schwierigkeiten bei der Registrierung des Kindes, da die Behörden für die Ausstellung der Geburtsurkunde eine Heiratsurkunde verlangen.

Darüber hinaus sieht das Staatsangehörigkeitsgesetz der VAE zwar vor, dass Kinder von emiratischen Männern automatisch Anspruch auf die Staatsbürgerschaft der VAE haben. Für Kinder von emiratischen Müttern und ausländischen Vätern gilt dieser Automatismus hingegen nicht.

Lust auf Meer: Strandszene aus Dubai, 2020Bild: Karim Sahib/AFP

Katar

"Für die Frauen in Katar und in den übrigen Golfmonarchien haben sich 2018 und 2019 bedeutende und substanzielle Verbesserungen ergeben", sagte Cinzia Bianco, Golfregion-Expertin und Gastwissenschaftlerin beim European Council on Foreign Relations, der DW.

2022 sei dabei vor allem im juristischen Sinne relativ frauenfreundlich ausgefallen, so die Politologin: Einige neue Frauenrechte seien bestätigt, einige bereits bestehende Freiheiten erweitert worden. 

Ein Erfolg der Fußball-WM? Allenfalls bedingt, meint die Expertin. Zwar hätten einige Regierungen der Region Bürgerinnen zum Besuch der Spiele ermutigt, beispielsweise durch Vergabe von Eintrittskarten für Fußballspiele. "Allerdings gab es keinen legislativen Fortschritt, der, wie zum Beispiel bei den Rechten ausländischer Arbeitnehmer, direkt mit der Fußball-Weltmeisterschaft zusammenhängt", so Bianco.

In der Summe genießen die Bürgerinnen von Katar weiterhin nur eingeschränkte Freiheiten. So sind sie bei Heirat oder Bewerbungen auf dem Arbeitsmarkt weiter von dem nach wie vor geltenden Vormundschaftssystem abhängig. Ihre Freiheit gilt in Teilen also nur so lange, wie ihr Vormund keine Einwände erhebt, heißt es in einer Studie von Amnesty International.

Zugleich aber hat Katar unter den Golfstaaten mit Blick auf die Zahl der Studentinnen, die Schließung der Geschlechterkluft und die Erwerbsbeteiligung von Frauen sich jedoch inzwischen eine führende Position erarbeitet.

Doch es bleibt noch viel zu tun: Im Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums ist Katar bisher nur von Platz 44 im Jahr 2020 auf Platz 42 im Jahr 2021 aufgestiegen.

Tradition und Moderne: Eine Frau aus Katar während der WM 2022 in DohaBild: Miguel Medina/AFP/Getty Images

Bemerkenswert findet Bianco, dass die katarischen Frauen ebenso wie die emiratischen Frauen "ziemlich zurückhaltend" auf die anhaltenden Proteste im benachbarten Iran reagiert haben, die als Protest gegen die Verschleierungspflicht begonnen hatten. Ein Grund dafür, mutmaßt Bianco, könnte der Umstand sein, dass katarische Frauen seit über 20 Jahren keinen Hidschab mehr tragen müssen, wenn sie das nicht wollen - auch wenn die Erwartungshaltung, das Haar zu bedecken und im kulturellen und religiösen Sinne als Muslima erkennbar zu sein, ungebrochen groß ist. Dennoch können Frauen in Katar wählen, ob sie sich nach der strengen wahhabitischen Auslegung des Islam kleiden oder eher westliche Mode bevorzugen.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.