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Freie Fahrt für die Ampel-Koalition?

7. Oktober 2021

Sozialdemokraten, Liberale und Grüne sondieren ein rot-gelb-grünes Regierungsbündnis für Deutschland. Es wäre ein Novum. Die Erfahrungen auf der Länderebene sind sehr unterschiedlich.

Deutschland | Ampel vor Reichstagsgebäude
Ob die Ampel künftig auch unter der gläsernen Kuppel des Bundestags funktioniert, soll jetzt geklärt werdenBild: Christoph Soeder/dpa/picture alliance

"Bei den Programmen von SPD und Grünen läuft alles auf eine Mehrbelastung der Bürger und Betriebe hinaus. Das passt mit uns nicht zusammen." Das sagte der Vorsitzende der Freien Demokraten (FDP) neun Tage vor der Bundestagswahl – allerdings 2009. Chef der Liberalen war damals Guido Westerwelle, der nach dem besten Wahlergebnis seiner Partei (14,6 Prozent) Außenminister unter Kanzlerin Angela Merkel wurde.

SPD und Grüne wollen Steuern erhöhen

Die Frage nach einer aufgrund der Parteifarben – rot, gelb, grün – als Ampel bezeichneten Koalition hatte sich dabei für den 2016 verstorbenen Westerwelle ohnehin erledigt. Denn Christdemokraten (CDU), Christsoziale (CSU) und FDP hatten eine eigene Mehrheit. Doch seitdem haben sich die politischen Gewichte aufgrund der Wahlergebnisse gewaltig verschoben. Programmatisch ist das jedoch nur bedingt der Fall.

SPD und Grüne wollen zur Bewältigung der Corona-Krise und der dadurch entstandenen Staatsverschuldung auch die Steuern erhöhen, während die FDP weiterhin dagegen ist. In der Klimapolitik trennen die Parteien auf den ersten Blick ebenfalls Welten. SPD und Grüne setzen stärker auf staatliche Eingriffe, die Liberalen auf den Markt. Am größten sind die Schnittmengen wohl in der Europa-, Außen- und Sicherheitspolitik.

Einigkeit im Verhältnis zu den USA und zur NATO

An einer engen Zusammenarbeit mit den USA und innerhalb des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses (NATO) wollen alle festhalten. Das gilt auch für einen kritischen Dialog mit China, Russland oder dem Iran. Differenzen betreffen eher Detailfragen wie die umstrittene Gas-Pipeline Nord Stream 2, die von russischem Boden bis nach Deutschland führt. Ob diese Ausgangslage tragfähig ist für ein Dreierbündnis, wollen die Parteien in den jetzt beginnenden Sondierungsgesprächen klären.

FDP-Chef Christian Lindner auf dem Weg zur ersten Sondierungsrunde mit SPD und Grünen in BerlinBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Am skeptischsten ist weiterhin FDP-Chef Lindner. Aber auch wenn er, wie einstmals Westerwelle, die große inhaltliche Nähe zu den Unionsparteien CDU und CSU betont, kann sich der 42-Jährige eine Ampel-Koalition anscheinend vorstellen. Dass es mit den von ihm seit Jahren als "Verbotspartei" bezeichneten Grünen funktionieren könnte, hat Lindner in bilateralen Treffen schon ausgelotet.

Politik-Experte Souris: Scholz steht für Stabilität und Verlässlichkeit

Aber nun wird die Runde größer – und es naht die Stunde der Entscheidung: ob man zusammen mit der SPD und ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz in konkrete Koalitionsverhandlungen einsteigen will – oder nicht. Auch außerhalb Deutschlands wird das Ringen um eine neue deutsche Regierung ohne die 16 Jahre lang amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel aufmerksam beobachtet. "Scholz würde gegenüber den europäischen Partnern eine gewisse Kontinuität zur Post-Merkel-Ära vermitteln – und damit Stabilität und Verlässlichkeit", sagt der Berliner Politikwissenschaftler Antonios Souris auf DW-Anfrage.

SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz kurz vor Beginn der Gespräche mit Grünen und FDP in BerlinBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Alle drei Parteien seien außerdem pro Europäische Union (EU). Deshalb könne die Ampel in Deutschland mit einem ambitionierten Reform- und Modernisierungsprogramm durchaus einen Moment des Aufbruchs in Europa markieren. "Wie nachhaltig dieser sein würde, hängt aber vor allem auch von den Präsidentschaftswahlen in Frankreich im kommenden Jahr ab", nennt Souris eine Ungewissheit, auf die Deutschland keinen Einfluss hat.

2022 übernimmt Deutschland den G7-Vorsitz

Dass die Europa-Politik im Wahlkampf keine Rolle gespielt hat, erklärt sich der Politologe von der Freien Universität Berlin mit den "vielen innenpolitischen Baustellen". Deshalb erwartet er zunächst auch keine größeren Impulse der neuen Regierung in Berlin. Das könne sich aber ändern, wenn Deutschland 2022 den Vorsitz der sieben wichtigsten westlichen Industrienationen (G7) übernehme. "Es wird interessant sein, welche Schwerpunkte die Bundesregierung dann setzen wird."

Politikwissenschaftler Antonios Souris Bild: Privat

Wer dieser Regierung künftig angehören wird, ist aber noch offen. Sondierungsgespräche sind lediglich die Vorstufe zu möglichen Verhandlungen. Einer, der auf Seiten der FDP sehr gut weiß, wie man eine Ampel-Koalition zustande bringt, ist Christian Lindners Generalsekretär Volker Wissing. Er war bis Mai 2021 fünf Jahre lang Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident im Bundesland Rheinland-Pfalz.

In Rheinland-Pfalz funktioniert die Ampel

Das rot-gelb-grüne Trio unter der SPD-Regierungschefin Malu Dreyer funktionierte so gut, dass es sich nach der Landtagswahl im März 2021 schnell auf eine Fortsetzung einigte. Wissing hat sich nun von der Landespolitik verabschiedet und konzentriert sich voll auf die Bundespolitik. "Auf FDP-Seite wird Volker Wissing für die Ampel in seiner eigenen Partei Vertrauen schaffen können – und müssen", betont Politikwissenschaftler Souris die Rolle des liberalen Generalsekretärs.

SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer (M.) verkündet die Fortsetzung der Ampel-Koalition in Rheinland-PfalzBild: Frank Rumpenhorst/dpa/picture alliance

Als Teil der ersten Ampel-Koalition in Rheinland-Pfalz könne er glaubwürdig auf ihren Erfolg verweisen. Und gleichzeitig seine Erfahrungen einbringen, wie eine Ampel auch für die FDP als den kleinsten Koalitionspartner in diesem Bündnis funktionieren könne. Von Wissing selbst ist der Satz überliefert, er habe "positive Erfahrungen mit ungewöhnlichen Regierungskonstellationen" gemacht.

In Bremen scheiterte Rot-Gelb-Grün an einem Naturschutz-Streit

Den positiven Erfahrungen in Rheinland-Pfalz stehen aber auch weniger gute gegenüber. Die erste Ampel-Koalition in Deutschland, 1991 im Stadtstaat Bremen geschmiedet, platzte vor Ablauf der Legislaturperiode an einem Naturschutz-Streit zwischen Grünen und FDP. In anderen Bundesländern – darunter Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und Hessen – scheiterten bereits die Sondierungsgespräche.    

Die erste Ampel-Koalition in Deutschland gab es 1991 im Stadtstaat Bremen mit Bürgermeister Klaus Wedemeier (r.) Bild: DB Wagner/dpa/picture-alliance

Dass es in Rheinland-Pfalz nun schon ein zweites Mal klappt, erklärt sich Politik-Experte Souris mit zwei entscheidenden Faktoren: Die SPD sei klar stärkste Kraft und Ministerpräsidentin Dreyer die populärste Politikerin im Land. Dennoch behandele sie ihre Koalitionspartner nicht von oben herab. "Sie hat einen Regierungsstil etabliert, durch den die Koalitionäre in ihren jeweiligen Schwerpunktthemen glänzen können."

Vorbild für die SPD: Ministerpräsidentin Malu Dreyer

Ein Vorbild für die Ampel-Koalition auf Bundesebene? Souris hält das für möglich und verweist auf die vertrauensvolle Atmosphäre, in der man in Rheinland-Pfalz zusammenarbeite und Kompromisse finde. "Die dann gemeinsam nach außen vertreten werden." Malu Dreyer verstehe sich dabei eher als Moderatorin eines Regierungsteams. Nicht umsonst sei sie Teil der SPD-Delegation für die Sondierungen. "Olaf Scholz wird sich stark an ihrem Regierungsstil orientieren." 

Selfie mit Volker Wissing (FDP), Annalena Baerbock (Grüne), Christian Lindner (FDP), Robert Habeck (Grüne; v.l.n.r.)Bild: Instagram/@volkerwissing/via Reuters

Atmosphärisch scheinen die Voraussetzungen also ganz gut zu sein. Doch allein damit räumt man keine inhaltlichen Gegensätze aus dem Weg. Der Berliner Politikwissenschaftler Antonios Souris erwartet, dass im Falle einer Ampel-Koalition "am Ende ein sehr dicker Koalitionsvertrag mit vielen Detailregelungen stehen wird".

Auf der Suche nach einem gemeinsamen Motto

Wichtig werde zudem ein gemeinsames Motiv sein. Von den Beteiligten höre man ja vielfach die Wörter "Reform" oder "Modernisierung". SPD, FDP und Grüne müssten aber unbedingt den Eindruck vermeiden, dass ihr Koalitionsvertrag eine Zusammenstellung von kleinsten gemeinsamen Nennern oder ein "zusammengeflicktes Sammelsurium" der einzelnen Parteiprogramme darstelle, meint Souris. "Hier wird es auf die SPD und Olaf Scholz ankommen, Kompromisse zu finden, mit denen alle Beteiligten vor ihre jeweiligen Parteien und ihre Wählerschaft treten können."

 

Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland