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PolitikNahost

Freiheit für eine, Todesstrafen für andere

22. Juli 2021

In Ägypten ist kürzlich Israa Abdel Fattah, 2011 als "Facebook-Girl" bekannt geworden, aus dem Gefängnis entlassen worden, ebenso einige weitere Aktivisten. Doch viele andere bleiben in Haft, einigen droht sogar der Tod.

Israa Abdel Fattah nach ihrer Freilassung
Aktivistin Abdel Fattah nach ihrer FreilassungBild: picture alliance/dpa

Israa Abdel Fattah hat vor wenigen Tagen das Gefängnis verlassen. Knapp zwei Jahre hatte die Aktivistin in Untersuchungshaft verbracht, Sie gilt als eine der zentralen Figuren des Revolutionsjahres 2011 in Ägypten. Angeklagt war sie der "Verbreitung falscher Informationen". Außerdem soll die heute 43-Jährige mit einer "Terroristengruppe" zusammengearbeitet haben, so die Anklage.

Abdel Fatah war eine der ersten ägyptischen Aktivistinnen, die sich im Kontext des sogenannten "Arabischen Frühlings" 2011 der digitalen Medien bedienten. Ihre Videos verschafften ihr damals, als die Stimmung im Land höchst euphorisch und das Scheitern des "Arabischen Frühlings" noch nicht absehbar war, den Spitznamen "Facebook-Girl". Später wurde sie sogar für den Friedensnobelpreis nominiert.

Protest während des "Arabischen Frühlings" auf dem Tahir Platz in Kairo (im Januar 2011)Bild: picture-alliance/dpa

Insgesamt wurden über 40 Menschen aus der Haft entlassen. Ihre Entlassung folgte in zeitlicher Nähe zum Beginn des muslimischen Opferfests Eid al-Adha. Gnaden-Erlasse und Freilassungen haben an diesem hohen Feiertag in islamisch geprägten Ländern eine gewisse Tradition.

Viele weitere Gefangene

"Ich bin froh, dass die Menschen aus dem Gefängnis gekommen sind", sagt Ramy Yaacoub, Direktor des Tahrir Institute for Middle East Policy in Washington. "Aber es gibt noch sehr viele weitere Gefangene", gibt er zu bedenken. Genaue Zahlen sind nicht bekannt, aber die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch geht davon aus, dass weiterhin rund 60.000 Personen aus politischen Gründen in ägyptischen Gefängnissen einsitzen.

Auch derzeit geht Ägypten weiter gegen politisch unliebsame Bürger vor. So begann in der vergangenen Woche ein Prozess gegen sechs säkulare Aktivisten und Journalisten, darunter Ziad el-Elaimy, ehemals Mitglied des ägyptischen Parlaments und einer der Führer der Sozialdemokratischen Partei des Landes. Die bereits 2019 verhafteten Aktivisten werden unter anderem der "Störung des öffentlichen Friedens" und der "Verbreitung falscher Nachrichten" beschuldigt. In den Augen von Staat und Justiz gelten sie als mutmaßliche Terroristen. 

Gnadenlos gegen Muslimbrüder

Bereits im Juni waren Todesurteile gegen zwölf Muslimbrüder verhängt worden. Insbesondere diese gelten seit dem Sturz des aus ihren Reihen stammenden, vor zwei Jahren in Haft verstorbenen Ex-Präsidenten Mohamed Mursi 2013 pauschal als terroristische Vereinigung. Nach Verkündung der Todesurteile hätte allein der ägyptische Präsident die Verurteilten innerhalb einer Frist von zwei Wochen begnadigen können. Abdel Fattah al-Sisi ließ die Frist jedoch verstreichen.

Muslimbruder Beltagy (während seines Prozesses 2016)Bild: Mohamed El Raai/AA/picture alliance

Unter dem Hashtag #StopEgyExecutions starteten Familienmitglieder eine Medienkampagne, um gegen die Urteile zu protestieren und international auf die drohenden Hinrichtungen hinzuweisen. Ihr Mann und die anderen Verurteilten seien zum Ziel eines "erbitterten Rachefeldzuges" geworden, der allen moralischen und humanitären Maßstäben entbehre, schreibt beispielsweise Sana Abd Al-Gawad, die Ehefrau von Mohamed Elbeltagy, der 2012 für die Muslimbrüder im ägyptischen Parlament saß, in einer Stellungnahme, die der DW vorliegt.

Auch gegen sie selbst, so Sana Abd Al-Gawad, seien "konstruierte Anschuldigungen" erhoben worden, daher könne sie aus Sicherheitsgründen nicht in der Nähe ihres inhaftierten Mannes sein. Sie und weitere Angehörige befürchteten eine baldige Umsetzung der Todesstrafen. Ein konkretes Datum sei ihnen nicht mitgeteilt worden, klagt die Frau des Muslimbruders.

Immer mehr Todesstrafen

Laut einem Bericht von Amnesty International über die Anwendung der Todesstrafe im Jahr 2020 ist Ägypten das Land, das weltweit am dritthäufigsten von dieser Strafe Gebrauch macht. Übertroffen wird es nur von China und dem Iran. Demnach wurden 2020 in Ägypten 264 Todesstrafen verhängt und 107 Urteile vollstreckt - darunter 23 Fälle im Zusammenhang mit politischer Gewalt und "infolge grob unfairer Gerichtsprozesse, zustande gekommen durch erzwungene 'Geständnisse' und andere ernsthafte Menschenrechtsverletzungen inklusive Folter", so Amnesty.

Insgesamt waren im Jahr 2019 mit 32 Fällen noch deutlich weniger Hinrichtungen vollstreckt worden. Damit hat sich deren Zahl innerhalb eines Jahres mehr als verdreifacht. Innerhalb der arabischen Staaten ist Ägypten nun "führend" beim Verkünden und Vollstrecken von Todesurteilen.

Kein "Lieblings-Diktator" mehr

Kritik daran kommt nicht nur regelmäßig aus Europa - sondern seit einigen Monaten auch wieder deutlich vernehmbar aus Washington, dem wichtigsten internationalen Partner Kairos. Anders als Donald Trump, der Präsident al-Sisi in aller Öffentlichkeit ironisch als seinen "Lieblings-Diktator" verhätschelte, artikuliert die neue US-Regierung unter Joe Biden immer wieder deutliche Kritik an Menschenrechtsverletzungen in Ägypten.

US-Außenamtssprecher PriceBild: Alex Brandon/AP Photo/picture alliance

Erst vor wenigen Tagen kritisierte US-Außenministeriumssprecher Ned Price die Anklage gegen den Aktivisten Hossam Bahgat, Generaldirektor der ägyptischen Initiative für Persönlichkeitsrechte (EIPR). "Wir glauben, dass es allen Menschen erlaubt sein sollte, ihre politischen Ansichten frei zu äußern, sich friedlich zu versammeln und zu verbinden", erklärte Price auf einer Pressekonferenz. "Als strategischer Partner haben wir diese Bedenken bei der ägyptischen Regierung geäußert und werden dies auch in Zukunft tun."

Doch folgt daraus auch ein Politikwechsel gegenüber der Führung in Kairo? Bisher ist dies kaum zu erkennen, auch wenn Präsident al-Sisi unter Biden bisher nicht dieselbe Aufmerksamkeit erfährt wie unter Trump. Ägypten hat zudem einige Trümpfe in der Hand, mit denen es sich gegen politischen Druck aus Washington wappnen kann.

So gilt das Land als verlässlicher Partner im Kampf gegen den Terrorismus. Auch genießen amerikanische Kriegs- und Militärschiffe eine Vorzugsbehandlung bei der Passage über den Suezkanal, US-Militärflugzeuge können ungehindert den ägyptischen Luftraum passieren. Zudem ist Ägypten ein wichtiger Vermittler im Nahostkonflikt.

Suezkanal (bei Ismailia)Bild: Amr Nabil/AP/picture alliance

"Internationaler Druck könnte Präsident al-Sisi und die ägyptische Regierung sicherlich dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern", sagt Mohamed El Dahshan von der Londoner Denkfabrik Chatham House: "Die Wahrheit ist allerdings, dass wir noch nie jemanden gesehen haben, der dies ernsthaft versucht hätte." Alle bisherigen Versuche seien halbherzig gewesen, so El-Dahsan.

Sorge vor Neuorientierung Kairos

Hinzu komme noch etwas anderes, meint Ramy Yaacoub vom Washingtoner Tahrir Institut: Vor allem die USA, aber auch europäische Staaten wie Großbritannien betrieben mit Ägypten Waffengeschäfte in großem Umfang - und ihnen sei sehr daran gelegen, dass Ägypten seine Waffen künftig nicht anderswo kaufe, etwa in Russland oder China. Dahinter steckt die Sorge, dass Ägypten, wenn es zu sehr mit Menschenrechtskritik konfrontiert werde, auch außenpolitisch seine engen Beziehungen zum Westen lockern und sich auf die Suche nach neuen starken, aber weniger kritischen Partnern begeben könnte.

Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika