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Freital-Prozess: Die Spuren des Terrors

6. September 2020

Eine Terrorgruppe im sächsischen Freital hatte im Jahr 2015 Sprengstoffanschläge auf Politiker und Flüchtlingsunterkünfte verübt. Vor einem zweiten Prozess gegen die mutmaßlichen Täter bleibt die Stadt gespalten.

Rechte Proteste gegen das Flüchtlingslager in Freital
Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Meyer

Der Alltag von Steffi Brachtel hört sich an wie aus dem Plot eines Thrillers: "Was erwartet Dich hinter dem nächsten Auto? Oder was erwartet Dich, wenn die Fahrstuhltür aufgeht?" Seit 2015 stellt sich Steffi Brachtel diese Fragen. Täglich. Denn damals fing die Bedrohung an. "Los ging es mit Beleidigungen im Internet. Dann hatte ich das Gefühl, mir wird aufgelauert. Im August 2015 wurde mein Briefkasten in die Luft gesprengt. Und mein Sohn ist angegriffen worden."

Steffi Brachtel lebt eigentlich in einer beschaulichen Stadt: Freital hat 40.000 Einwohner. Gleich um die Ecke liegt die Elbmetropole Dresden mit ihrer Pracht, ihrer Kultur und den Touristenmassen. Die Arbeitslosigkeit ist überschaubar. Der Fluss Weißeritz schlängelt sich durch den Ort bis in den Rabenauer Grund mit seinen wildromantischen Felslandschaften. Kein schlechter Ort zum Leben.

Im Visier der rechten Terroristen: Flüchtlingshelferin Steffi Brachtel aus FreitalBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Aber für Steffi Brachtel wird das Leben in Freital im Jahr 2015 zur Hölle. Denn damals beschließt sie gemeinsam mit anderen, den Flüchtlingen zu helfen, die in ihre Stadt kommen. Noch vor den Flüchtlingen kommt aber der Hass. Nicht von außen, sondern aus Freital selbst. Denn als bekannt wird, dass die ankommenden Menschen in einem ehemaligen Hotel untergebracht werden sollen, gehen die Bewohner auf die Straße. Nicht einige oder einige Dutzend, sondern hunderte. Und nicht ein oder zwei Mal, sondern wochenlang.

Aus Protest gegen Flüchtlinge wird Terror

Deutschland und Europa sehen 2015 die Bilder vom grausamen Bürgerkrieg in Syrien, von der katastrophalen Lage hunderttausender Frauen, Männer und Kinder, die sich zu Fuß und in überfüllten Booten auf die tausende Kilometer lange Suche nach Sicherheit und Frieden machen. Unzählige ertrinken im Mittelmeer. Kinder werden tot an die griechischen Urlaubsstrände gespült. Aber hier in Freital brüllt der Mob in die TV-Kameras: "Die kriegen alles in den Arsch geschoben, und mir gibt niemand was!" Auch diese Bilder gehen um die Welt. Bilder vom hässlichen, reichen Deutschland. Kaltland.

Die Aggressionen ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger treffen Steffi Brachtel mit voller Wucht. "Das war sehr schlimm für mich erkennen zu müssen, dass Hass und Vorurteile aus meiner Stadt kommen. Ich habe eine Hassliebe zu Freital und Dresden. Ich bin hier geboren und hatte eine glückliche Kindheit. Aber jetzt gibt es auch das hässliche Gesicht."

Terroristische "Gruppe Freital": zwei Strafprozesse, 12 AngeklagteBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Es bleibt im Jahr 2015 nicht bei Demonstrationen und Protesten. Denn aus der Masse heraus schließen sich die Freitaler in Bürgerinitiativen zusammen. Sie gründen Bürgerwehren und starten Hetzkampagnen voller Lügen. Sie nennen sich schlicht "Nein zum Heim". Oder einfach nur "Gruppe Freital". Diese "Gruppe Freital" will mehr als alle anderen. Sie will Terror. Und sie macht Terror.

Im Jahr 2018 werden acht Mitglieder und Unterstützer der Gruppe zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Sie sind Bürger der Stadt. In der Urteilsbegründung des Oberlandesgerichts Dresden heißt es, dass sie eine terroristische Vereinigung gründeten, um "Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberunterkünfte sowie auf Wohnungen, Büros und Fahrzeuge politisch Andersdenkender zu verüben. Dadurch hätten die Angeklagten ein Klima der Angst und Repression erzeugen wollen."

Sprengstoffanschläge auf Flüchtlinge und Andersdenkende

In ihren Chatgruppen beschimpfen sie Geflüchtete rassistisch und verunglimpfen Unterstützer wie Steffi Brachtel. Trotz der Gerichtsurteile und der Haftstrafen ist Brachtels Angst geblieben. Bis heute verlässt sie nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr ihre Wohnung. Denn der Hass von 2015 hatte mehr Gesichter als die der acht Verurteilten. Viel mehr. "Man fühlt sich ohnmächtig und hilflos", erzählt Steffi Brachtel. "Ich bin immer selbstbewusst durchs Leben gegangen. Und dann kommt die Bedrohung näher. Und dann liest man im Internet Beschimpfungen mit Informationen über die eigene Familie. Man kriegt dann Paranoia."

Mitglieder der rechtsextremen "Gruppe Freital" mit ihren Anwälten im Verhandlungssaal während des ersten ProzessesBild: picture-alliance/dpa/S. Kahnert

Ab 7. September 2020 kommt es vor dem Oberlandesgericht Dresden zu einem zweiten Prozess gegen weitere Mitglieder und Unterstützer der terroristischen "Gruppe Freital". Diesmal werden vier weitere Männer und Frauen angeklagt. Einer von ihnen saß damals im Stadtrat.

"Meine Erwartung an den zweiten Prozess ist, dass endlich die restlichen Zweifler wach werden und merken, dass es mehr Täter waren als nur ein paar 'Lausbuben‘". Michael Richter sitzt 2015 auch im Stadtrat. Damals ist er Fraktionsvorsitzender der Linken. Und kämpft gemeinsam mit Steffi Brachtel für die Aufnahme der Flüchtlinge. Er wird deswegen ebenfalls zur Zielscheibe der Terroristen. "Ich habe die Akten lesen können. Die Leute wussten über alle meine Schritte Bescheid. Sie wollten nach dem Sprengstoffanschlag auf mein Auto auch meinen neuen Wagen mit mir zusammen in die Luft sprengen. Sie wussten alles."

Oberbürgermeister in der Kritik

Der Oberbürgermeister und mit ihm viele Politiker der Stadt spielen die entfesselte Gewalt in Freital herunter. Besorgt scheinen sie mehr über die negativen Schlagzeilen in den Medien als über den Mob aus Hass und Terrorismus zu sein. Nach den Sprengstoffanschlägen werden die Täter als "Lausbuben" verharmlost.

Sprengstoffanschlag auf Auto, auf Schritt und Tritt überwacht: Politiker Michael RichterBild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Auf die Fragen der Deutschen Welle zu den Ereignissen von 2015 antwortet das Büro des Oberbürgermeisters nur schriftlich. Für das Stadtoberhaupt waren es die "verwerflichen Handlungen einer kleinen Gruppe". Kein Wort zu der verstörenden Tatsache, dass zahlreiche der Freitaler Mitbürgerinnen die Sprengstoffanschläge auf Flüchtlinge damals kalt kommentierten: "Es sind ja keine Deutschen." Kein Wort zur lebensgefährlichen Bedrohung eines gewählten Mandatsträgers.

Keine Sehnsucht zurück nach Freital

Als der Stadtverordnete Michael Richter im Jahr 2017 die Akten zum Strafverfahren gegen die Terrorgruppe einsehen kann, beschließt er, Freital zu verlassen. "Das war sehr beklemmend. Das war katastrophal. Einer der Informanten der Täter, war der Bewohner meiner Nachbarwohnung. Als ich nach dem Anschlag einen neuen Wagen bekam, hat er gleich Fotos an die Gruppe Freital weitergeleitet."

Richter wird für neun Monate krankgeschrieben und zieht nach Bayern. Er melkt erst einmal Kühe und kümmert sich um ganz andere Sachen als Politik. "Ich lebe jetzt befreit. Ich kann meine Meinung frei äußern. Auch wenn man hier in Bayern als Linker eine Ausnahme ist." Richter wirkt wie erlöst, wenn er von seinem neuen Leben erzählt. Vermisst er Freital? Seine Antwort darauf ist ein einziges schallendes Lachen: "Ich habe keine Sehnsucht zurück nach Freital! Ich vermisse nur die Leute, an die ich positive Erinnerungen habe."

Rechtsextreme in Deutschland

02:05

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Steffi Brachtel hat den Eindruck, dass der erste Prozess und der nun folgende etwas bewirkt haben in der Stadt. Einige Bewohner hätten begriffen, dass es um Rechtsextremismus und Terror geht und nicht um Kleinigkeiten. Und sie erlebt auch keine akute Bedrohung mehr. Aber hat die Stadt wirklich gelernt aus den Vorfällen? "Ich glaube, das könnte wieder passieren. Da wurde nur die Spitze des Eisbergs angeklagt. Hier leben noch viele in der Stadt, die das unterstützen oder Beifall geklatscht haben. Ja, die Gefahr ist noch da."

Fünf Jahre nach den Anschlägen ist die Partei Alternative für Deutschland stärkste Fraktion im Stadtparlament. Sie ist die Stimme der Flüchtlingsgegner. Ihr Fraktionsmitglied René Seyfried warb im Jahr 2015 in einer Chatgruppe für häufige Spontandemos vor dem Flüchtlingsheim: "Provozieren bis die Scheiße bauen." Vor einer Demo schrieb er im Chat: "Ich bin nicht da, aber ich würde jetzt alle da hochjagen wollen." In der Chatgruppe waren auch die späteren Terroristen. Und einer der Angeklagten ist sein ehemaliger Mitarbeiter.

Freital und die Flüchtlinge: Herausforderung geschafft?

Und was ist aus den Geflüchteten in Freital geworden? Deren Ankunft wurde ja im Jahr 2015 vom Straßenmob als der Untergang des Abendlandes heraufbeschworen. 120 leben noch hier. Auf 325 Einwohner kommt also ein geflüchteter Mensch. Sie sind alle dezentral in eigenen Wohnungen untergebracht, teilt die Stadt der Deutschen Welle mit. Und dass sich viele der neuen Bürger in Sportvereinen und Initiativen engagieren. Einige Migranten haben sich selbst organisiert, leisten Bildungsarbeit und fördern die Entwicklungsprozesse der Stadt. "Konstruktiv" nennt die Stadt ihren Beitrag. Die Herausforderungen durch den Zuzug von Geflüchteten zu meistern, dass scheint Freital also geschafft zu haben. Nur der Hass und die Missgunst in Teilen der alteingesessenen Bevölkerung scheinen unüberwunden.

Aufkleber mit fremdenfeindlichen Parolen in Freital im Jahr 2015Bild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Den parteilosen Oberbürgermeister Uwe Rumberg sehen viele Freitaler dabei als Teil des Problems. Seine Reaktionen auf die Ereignisse sind irritierend. Das zeigt der Wegzug von Terroropfer Michael Richter. Dass der ehemalige Fraktionsvorsitzende einer Partei des Stadtparlaments Freital verlassen hat, weil ein Sprengstoffanschlag auf ihn verübt wurde, weil ein weiterer schon geplant war, weil ihn rechtsextreme Mitbürger der Stadt auf Schritt und Tritt überwacht haben, weil ihm also in Freital die Luft zum Atmen genommen wurde, kommentiert die Stadt im Namen des Oberbürgermeisters gegenüber der Deutschen Welle nur lapidar mit einem Satz: "Der Wegzug von Herrn Richter ist seine persönliche Entscheidung". Ansonsten sei die überwiegende Mehrheit der Einwohner friedliebend, und extremistische Gewalt habe keinen Platz in der Gesellschaft. Keinen?

Im Mai 2020 wird eine schwarze Frau in Freital von einem Unbekannten bespuckt und bedroht. Zwei Monate vorher ruft ein Mann aus dem Auto die Parole der Nationalsozialisten: "Sieg Heil". Hakenkreuze und Schmierereien mit SS-Runen tauchen an Fahrzeugen, Stromkästen und Hausfassaden auf. Die friedliebende Mehrheit? Sie schweigt.

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