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Freiwilliges soziales Jahr im Handwerk

6. Dezember 2023

Das Handwerk leidet unter Nachwuchsmangel. Die meisten Schulabgänger suchen ihren Traumberuf woanders. Ein freiwilliges soziales Jahr im Ahrtal soll das ändern und bringt Ehrenamt und Handwerk zusammen.

Deutschland | Schreinerei Mülligann
Constantin Sper hat sein Lehramtsstudium aufgegeben und probiert sich jetzt im Handwerk ausBild: Insa Wrede/DW

Die Schule ist zu Ende und dann? Viele junge Menschen zieht es direkt in den Hörsaal oder in die Ferne. Andere machen ein freiwilliges soziales Jahr (ein sozialer Freiwilligendienst, der in gemeinwohlorientierten Einrichtungen geleistet wird). Nur ein Handwerk zu erlernen, das kommt für die meisten Absolventen nicht in Frage. Dabei ist der Mangel an Nachwuchs dort besonders groß. Jeder zweite Handwerksbetrieb hat im letzten Jahr keine passenden Bewerber für freie Ausbildungsplätze gefunden.

"Das Handwerk hat wirklich große Probleme, seinen Nachwuchs-Hunger zu stillen," sagt Kilian Bizer von der Universität Göttingen. Das gelte insbesondere für Bereiche, in denen es aufgrund des Klimawandels eine besondere Dynamik gebe. Ob es nun darum geht, Solaranlagen und Wärmepumpen zu installieren, Hausfassaden zu sanieren oder Ladestationen für E-Autos anzuschließen - Handwerker sind gefragt.

Die Ausbildung ist auch wichtig, um den Fachkräftemangel, den es sowieso schon im Handwerk gibt, abzumildern. Nur, wie gewinnt man junge Menschen für Berufe, in denen meist körperlicher Einsatz gefragt ist?

Ein besonderes Projekt im Ahrtal

Eine Idee dazu gab es im Ahrtal. Hier ist Handwerksleistung besonders wertvoll, weil das Tal 2021 von einer schweren Flut getroffen wurde. Viele Menschen haben spontan große Hilfe geleistet. Es wurden Unmengen Schlamm und Schutt beseitigt, Gebäude repariert oder abgerissen und neu gebaut. Aber auch zwei Jahre später ist noch viel zu tun.

Die Flut im Ahrtal 2021 hat Brücken zerstört, Häuser, Straßen und Autos mitgerissen.Bild: WDR

Wie im restlichen Deutschland klagen auch die Handwerker im Ahrtal über Nachwuchsmangel. Warum also nicht beide zusammenbringen - die helfenden Menschen und die Handwerksbetriebe? Das ist die Idee hinter dem Projekt Aufbau-Ahr - Freiwillige Aufbauzeit im Ahrtal, das das rheinland-pfälzische Arbeitsministerium und die Handwerkskammer Koblenz initiiert haben.

In Rahmen des Projektes können seit März 2022 junge Menschen in sechs bis acht Monaten verschiedene Handwerksberufe ausprobieren und gleichzeitig im Ahrtal helfen. Mehr als 50 Betriebe öffnen dafür ihre Türen für künftige Schreiner, Maurer, Tischler, Fliesenleger, Maler, Metallbau oder Kfz-Mechatroniker. Die Handwerkskammer Koblenz stellt den Teilnehmenden ihre Lehrwerkstätten zur Verfügung. Außerdem bekommen sie 470 Euro pro Monat und eine Unterkunft. 

Die Flut hat das Augenmerk auf das Handwerk gelenkt

Zwei, die zusammengebracht wurden, sind der Schreiner Alexander Lehnhoff, der im Ahrtal seit drei Jahren einen Betrieb mit rund zehn Mitarbeitenden hat und der 22-jährige Constantin Sper, der mit seinem Lehramtsstudium unglücklich war.

Seine Familie in Bad Bodendorf, einem kleinen Ort am Ausgang des Ahrtals, sei von der Flut betroffen gewesen, erzählt Constantin Sper. Nach dem Abitur hieß es für ihn daher, erst einmal mit anzupacken. "Ich hatte vorher schon die Idee, ein Handwerk zu lernen", erinnert sich Sper. "Vor allem aber nach der Flut, als ich acht Monate wie ein Vollzeit-Handwerker zu Hause gearbeitet habe, hatte ich Lust, etwas im Handwerk zu machen." Trotzdem begann er erst einmal ein Studium. "In meiner ganzen Großfamilie hat jeder studiert." Über einen Maler, der ebenfalls das Haus seiner Familie mit renoviert hat, hat Sper später von dem Aufbauprojekt im Ahrtal erfahren.

Handwerk im Flutgebiet immer noch gebraucht

Schreiner Lehnhoff hat in der Flutnacht Glück gehabt. Wer zu seinem Betrieb fährt, zwängt sich durch enge Gassen mitten in Heimerzheim. Anders als bei vielen anderen ist sein Betrieb von der Flut verschont geblieben. An Arbeit hat es danach nicht gemangelt. Eine Lehrstelle hatte Lehnhoff schon vor der Flut besetzt.

"Und dann kam in der Weihnachtszeit nochmal jemand und hat gesagt: ich habe mein Studium abgebrochen, ich will lieber arbeiten und hier ist so viel Arbeit um uns herum, ich kann das gar nicht ertragen," erzählt der 28-jährige Schreiner, der seit etwa drei Jahren seine Schreinerei führt. Inzwischen lernt und arbeitet auch Constantin Sper bei ihm im Rahmen des Aufbauprojekts Ahrtal.

Alexander Lehnhoff führt seit drei Jahren eine Schreinerei im AhrtalBild: Insa Wrede/DW

Mehr Lehrstellen konnten besetzt werden

In der Handwerkskammer freut man sich über den Erfolg des Projektes, das seit dem 1. März 2022 läuft. Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden würden im Anschluss eine Lehre in einem der Betriebe beginnen, sagt Ralf Hellrich, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Koblenz. Der Erfolg sei aber noch weitreichender.

"Wir haben in den Jahren 2021, 2022 ein Zehnjahres-Hoch gehabt bei der Besetzung der Lehrstellen im Ahrtal," so Hellrich. "Es war sehr auffällig, dass gerade im Ahrtal deutlich mehr junge Menschen eine Lehre begonnen haben." Er glaubt, das hätte auch daran gelegen, dass das Projekt, über das relativ gut berichtet wurde, eine große Strahlwirkung gehabt hätte. So hätten auch viele junge Menschen direkt eine Ausbildung im Ahrtal begonnen, ohne den Umweg über das Projekt zu gehen.

Das Aufbauprojekt Ahrtal

Etwas überraschend erzählt Lehnhoff, dass er, anders als andere Handwerker, bisher noch keine Nachwuchssorgen hatte. Im Gegenteil - er hat mehr Bewerbungen, als er annehmen kann. Seine Vermutung: "Dieser Mangel an Lehrlingen in den anderen Betrieben liegt gar nicht unbedingt daran, dass es zu wenig oder zu schlechte Lehrlinge gibt", meint Lehnhoff, "sondern dass die Betriebe sich nicht genug auf die Lehrlinge einlassen."

Er lege besonderen Wert auf eine Mitarbeiterführung und ein gutes Team, erzählt Lehnhoff. Das spreche sich unter den Jugendlichen beispielsweise über soziale Medien herum, glaubt er. "Das Ahrtal ist wie ein Riesendorf, da kennt jeder jeden und jeden Betrieb. Da werden auch unter den jungen Menschen ganz klar Geschichten über Betriebe erzählt."

In der Schreinerei Mülligann kann man sich bisher nicht über Nachwuchsmangel beklagenBild: Insa Wrede/DW

Daher ist er optimistisch, dass sein Betrieb es auch künftig relativ einfach haben werde, Nachwuchs zu finden - im Gegensatz zu anderen Betrieben, etwa mit veralteten Führungssystemen.

Neben der Teampflege tut er aber noch mehr. "Wir sind seit letztem Jahr Bestandteil einer Azubimesse. Es ist ein Projekt, das wir mit befreundeten Unternehmern in Heimerzheim selber auf die Beine gestellt haben." Natürlich sei es schwierig, "die ganzen jungen Leute aus dem Bett zu bekommen", gibt er zu.  Es wären nicht so viele Interessenten gekommen wie erhofft und es habe auch nicht jeder Betrieb auf diesem Weg einen Lehrling gefunden. Aber nächstes Jahr sei die nächste Messe für Auszubildende geplant.

Zufriedenheit im Beruf

Was Schulabgängerinnen und -abgänger eher nicht im Blick haben: Handwerk ist nicht nur körperliche Arbeit. Zu sehen, was man mit eigenen Händen geschafft hat, birgt auch viel Belohnung. "Handwerker sind überdurchschnittlich zufrieden mit ihrem Leben und ihrem Beruf", bestätigt Bizer. Das zeigt sich auch bei Schreiner Lehnhoff. Er ist sehr zufrieden mit seiner Berufswahl, obwohl ihm sein Vater, der ebenfalls Schreiner ist, von diesem Weg abgeraten hatte. Er könne es einfacher haben, meinte der Vater. Trotz einer Wochenarbeitszeit von 70 Stunden pro Woche - Lehnhoff ist der Beweis dafür, dass einfacher nicht immer besser ist.

Das Aufbauprojekt Ahrtal läuft eigentlich Ende 2023 aus. Aufgrund des Erfolges könnte es aber verlängert werden. "Wir sind in Gesprächen mit dem Arbeits- und Sozialministerium und es wird wohl zu einer Verlängerung des Projekts kommen," hofft Hellrich.

Insa Wrede Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion
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