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Frieden für die Favelas von Rio?

17. November 2011

Im Vorfeld der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 räumt Rio de Janeiro seit 2009 in den berüchtigten Slums auf. Neue Sicherheitskonzepte und eine neue Polizeieinheit sollen für Recht und Ordnung sorgen.

Spezialeinheiten durchkämmen die Favela Rocinha in Rio de Janeiro (Foto: dapd)
Gehört zu den größten Favelas Lateinamerikas: RocinhaBild: dapd

Am vergangenen Sonntag (13.12.2011) besetzten Spezialeinheiten der Polizei von Rio de Janeiro das Armenviertel Rocinha. Es ist bereits die 19. Favela, die im Rahmen des neuen Sicherheitskonzepts von den Drogenhändlern zurückerobert werden soll. Angefangen hatte alles mit der Favela Dona Marta, die 2002 durch den brasilianischen Film "City of God" von Fernando Meirelles weltweit bekannt wurde. Wie viele Menschen auf diesem ungefähr acht Fußballfelder großen Areal leben, weiß niemand so genau - Schätzungen gehen von sechs bis achttausend Bewohnern aus. Hier testete die Polizei vor drei Jahren das neue Polizeimodell (Unidade de Polícia Pacificadora, UPP): Zunächst besetzt die Polizei das Viertel und verhaftet die Kriminellen, anschließend kontrollieren so genannte "friedensstiftende Polizeieinheiten" die Favela und setzen Sozialprogramme um.

Heute profitieren nach offiziellen Angaben etwa 280.000 Bewohner in verschiedenen Favelas von diesem Programm. Rios Stadtregierung plant nach eigenen Angaben in den kommenden Jahren etwa 6,2 Millionen Euro in die Polizeiausbildung zu investieren. Bis zur Eröffnung der Olympischen Spiele 2016 sollen 60.000 Polizisten einsatzbereit sein.

Martialischer Auftritt: Sicherheitskräfte in der Favela RocinhaBild: picture-alliance/Photoshot

Symbolischer Einsatz

Etwa jeder Zweite der rund vier Millionen Einwohner von Rio de Janeiro lebt in einer der rund 500 Favelas, die sich an den Hügeln rund um die Stadt gruppieren. Allein in dem vielleicht berühmtesten Elendsviertel, der Rocinha, leben rund 80.000 Menschen. Das Viertel gilt als größter Slum Brasiliens und grenzt direkt an die noblen Vororte im Süden von Rio. Rund 3.000 Sicherheitskräfte waren an der Operation am Wochenende beteiligt, bei der das gesamte Viertel von Sondereinheiten der Polizei durchkämmt wurde. Dabei wurden Waffen konfisziert und mehrere Personen verhaftet.

Der Musiker Celso Athayde, Mitbegründer des Netzwerkes Central Única de Favelas (CUFA), spricht im Interview mit DW-WORLD.DE von einer symbolischen Aktion. "Es sollte eine Botschaft an die Welt und an die anderen Armenviertel gesendet werden. Wenn man in der Rocinha für Frieden sorgen kann, dann kann auch jede andere Favela befriedet werden." Die CUFA versucht mit ihrer Arbeit, in den Favelas eine soziale Struktur aufzubauen und Jugendliche über Sport-, Musik- und Berufsbildungsangebote eine Perspektive aufzuzeigen, die nicht in Drogenhandel, Illegalität und Gewalt endet.

Rubem César Fernandes, Leiter der Nichtregierungsorganisation Viva Rio, die ebenfalls in den Favelas der brasilianischen Metropole Sozialarbeit leistet, lobt den sogenannten "Friedensschock". Fernandes selbst war während des Polizeieinsatzes am Sonntag in der Favela und berichtet von einer ausgelassenen Stimmung unter den Bewohnern. "In den letzten zweieinhalb Jahren hat das Konzept der UPP an Glaubwürdigkeit gewonnen. Früher war es ein Kommen und Gehen. Heute ist die Polizeipräsenz dauerhaft", sagt Fernandes.

Kampf gegen Korruption

Die Aktivisten sehen in der jüngsten Aktion zwar einen wichtigen Schritt, aber an das Ende des Drogenhandels glauben sie noch nicht. Athayde zufolge stehen die Polizeieinheiten vor vielen Herausforderungen und es wird nicht leicht werden, eine dauerhafte Befriedung des Slums zu erreichen. Die Aktionen müssen seiner Meinung nach noch stärker ausgeweitet werden. Eines der Hauptprobleme sieht er in der Korruption. "Nachdem die Rocinha ohne Blutvergießen eingenommen worden war, entdeckte man, dass etliche Polizisten direkt in den Drogenhandel verwickelt waren. Das ist die eigentliche Bewährungsprobe für die Polizei: Sie muss die Korruption bekämpfen, die diese ganzen Gesetzeswidrigkeiten ermöglicht", fordert Athayde.

Spezialeinheiten durchkämmen das Stadtviertel Straße für StraßeBild: dapd

Für Fernandes ist eine gute Polizeiausbildung unerlässlich, da immer mehr Polizisten für die UPP-Einheiten benötigt werden. "Eine gute Rekrutierung ist wichtig. Es müssen Personen ausgewählt werden, die wirklich in den Favelas arbeiten wollen und in der Arbeit nicht nur eine Verpflichtung sehen. Und es muss ein angemessenes Training und gute Kontrollen geben, damit keine Probleme entstehen", fordert Rubem Fernandes von Viva Rio.

Langsamer Wandel

Seit sechs Jahren arbeitet die CUFA im Favela Morro do Alemão. Hier wurde im November 2010 eine UPP-Einheit stationiert. Doch der Wandel gehe nur sehr schleppen vonstatten, beklagt Musiker und CUFA-Mitbegründer Althayde. Zwar sei die Herrschaft der Drogenhändler gebrochen, dennoch verändere sich das Verhalten der Bewohner nur langsam. "Es gibt einen großen inneren Konflikt. Alles ist eine Frage der Bildung. Die Menschen sind in einer Parallelgesellschaft erzogen und groß geworden und sie haben Schwierigkeiten, sich an die reguläre, legale Welt zu gewöhnen, zu der sie nie gehört haben."

Eine ganz neue Erfahrung sei es etwa, die Strom- und Wasserrechnungen zu bezahlen. Mit den UPPs kamen auch die Stromversorger und andere Anbieter der regulären Grundversorgung in die Favelas.

Schon Tage vor der Stürmung wurden die Zugänge zu Rocinha abgeriegeltBild: picture-alliance/dpa

Die irregulären Stromleitungen wurden legalisiert und die Verbraucher erhielten zum ersten Mal überhaupt Rechnungen. "Es ist richtig, dass die Bewohner, wie jeder andere auch, ihre Bürgerpflichten wahrnehmen. Aber die Menschen bemerken, dass sie eigentlich nicht genug Geld dafür haben. Die Regierung hat zwar den Frieden in die Favelas gebracht, aber nicht dafür gesorgt, dass sich die finanzielle Situation der Menschen verbessert", sagt Athayde.

Sind die Favelas bald Geschichte?

Der Drogenhandel blüht auch weiterhin. "Der einzige Unterschied ist, dass die Geschäfte jetzt, wie auch beispielsweise in Deutschland, versteckt stattfinden. Früher war es für alle sichtbar", so Fernandes. Umso wichtiger sei es für Brasilien und Lateinamerika, dem Organisierten Verbrechen ein Ende zu setzen.

Für Athayde ist die Regierung trotz aller Schwierigkeiten auf dem richtigen Weg. Bis 2016 könnten die Favelas der Vergangenheit angehören. "Es darf keine Favelas mehr geben. Die Favelas sind die menschlichen Müllkippen und Abgründe der Gesellschaft. Eine romantische Vorstellung von Armenvierteln haben nur Touristen." Ernüchtert ist er jedoch hinsichtlich des Drogenhandels. "Solange eine Nachfrage für Rauschmittel besteht, wird es auch den Drogenhandel geben", sagt Athayde.

Autorin: Nádia Pontes/Anna Pellacini
Redaktion: Mirjam Gehrke

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