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Friedliches Zusammenleben: Juden und Muslime in Bosnien

31. Oktober 2025

Juden leben in Bosnien seit über 500 Jahren. Sie haben den multireligiösen Charakter des Landes mitbegründet. Wie steht es nach dem 7. Oktober 2023 um die interreligiösen Beziehungen in dem muslimisch geprägten Land?

Blick auf die Gazi-Husrev-Beg-Moschee in Sarajevo vor einem bewölkten Himmel. Daneben ist ein Uhrenturm zu sehen
In Sarajevo leben die Religionsgemeinschaften seit Jahrhunderten friedlich nebeneinanderBild: O. Muamer/Pond5 Images/IMAGO

In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo liegen Kirchen, Moscheen und Synagogen dicht beieinander. Die älteste, 1581 erbaute "Alte Synagoge" diente der sephardischen Gemeinde, also den Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien und Portugal vertrieben wurden. Sie beherbergt heute das Jüdische Museum. Die andere, aschkenasische Synagoge aus dem Jahr 1902, ein imposantes Gebäude im neo-maurischen Stil, wird von der jüdischen Gemeinde Sarajevos auch heute noch zum Gebet genutzt.

Vor dem Holocaust war jeder fünfte der damals 60.000 Einwohner der Stadt jüdisch. 85 Prozent der Gemeindemitglieder überlebten die Besetzung Bosnien und Herzegowinas durch Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg nicht. Von den überlebenden rund 2000 Juden ging etwa die Hälfte nach 1945 nach Israel.

Der Innenraum der "Alten Synagoge" in SarajevoBild: GTW/imageBROKER/picture alliance

Heute leben noch rund 700 Juden verteilt auf sechs Gemeinden in Bosnien, die meisten davon in Sarajevo. Anders als in Westeuropa bräuchten Synagogen und jüdische Einrichtungen dort keinen Polizeischutz, sagte Vladimir Andrle von der Jüdischen Gemeinschaft bei einer Veranstaltung in München im Rahmen des migrantischen Festivals "Ausarten"

Andrle ist seit 2022 Präsident des vor 133 Jahren gegründeten Sozialwerks der Jüdischen Gemeinde "La Benevolencija". Er ist in Sarajevo geboren und aufgewachsen und hat dort Musikpädagogik studiert. Manchmal trägt er die Kippa, wenn er durch die Stadt läuft. Angst hat er keine. 

"Auch bei uns explodiert seit dem 7. Oktober 2023 in den sozialen Medien der Antisemitismus - aber mich hat noch niemand beleidigt oder angegriffen", sagt er. Die über Jahrhunderte gewachsenen Verbindungen zwischen Juden und Muslimen hätten in Bosnien eine tragfähige Basis zwischen den Religionsgemeinschaften geschaffen, die auch Israels Krieg im Gazastreifen nicht zerstören könne, so Andrle. 

Signal der Religionsführer

Religiöse Identitäten sind in Bosnien und Herzegowina für alle drei laut Verfassung "staatsbildenden" Völker bis heute prägend: Bosniaken sind traditionell muslimisch, Serben orthodoxe Christen und Kroaten römisch-katholisch. Fünf Tage nach dem Massaker der Hamas lud der seit 2012 amtierende bosnische Großmufti, Husein Kavazovic, den Präsidenten der Jüdischen Gemeinschaft, Jakob Finci, zu einem symbolträchtigen Kaffee ein. Die beiden Religionsführer verurteilten in einem gemeinsamen Statement jede Form von Gewalt gegen Zivilisten.

Großmufti Husein Kavazovic im Januar 2024Bild: Samir Jordamovic/Anadolu/picture alliance

Das sollte der Öffentlichkeit zeigen: Juden und Muslime halten auch in dieser schwierigen Situation zusammen. Es sei ein wichtiges Signal gewesen, meint Andrle, auch an jene, die sich nur aus Gewohnheit einer Religionsgemeinschaft zurechnen.

Aber auch pro-palästinensische Demonstrationen waren zahlreich in den letzten zwei Jahren. Das Leiden der Zivilbevölkerung im Gazastreifen hat in Bosnien viele Menschen empört. Trotzdem habe man Rücksicht auf die jüdische Gemeinschaft genommen, so Andrle. Antisemitische Parolen wie "Tod den Juden" hätten die Verantwortlichen unterbunden. Demonstrationszüge wurden nicht direkt an jüdischen Einrichtungen vorbeigeführt.

Zivilcourage bleibt im kollektiven Gedächtnis

Als es zu einer antisemitischen Schmiererei am Jüdischen Museum kam, habe eine den Hijab tragende Muslima sie eigenmächtig schnell entfernt. "Sie arbeitet in der Nähe und hielt das für unangemessen", erzählt Andrle. "Bei uns machen die Menschen die Juden Sarajevos nicht für die Politik Israels verantwortlich."

Eine wichtige Rolle spielt dabei die Haltung der jüdischen Gemeinschaft während des Bosnienkrieges von 1992 bis 1995. Während der Belagerung von Sarajevo durch bosnische Serben hat "La Benevolencija" rund 2000 muslimische Bosniaken mit gefälschten Papieren der jüdischen Gemeinde aus der Stadt herausgeschmuggelt. Rund 40 Prozent der Hilfsgüter für Sarajevo kamen damals über die jüdische Hilfsorganisation in die Stadt.

Solche Beispiele von Zivilcourage seien im kollektiven Gedächtnis bis heute in Bosnien präsent, sagt Dzevada Garic, Professorin für Politikwissenschaft und internationale Beziehungen an der Sarajevo School of Science and Technology. "Sarajevo ist seit Jahrhunderten ein Symbol des gegenseitigen Respekts zwischen Muslimen, Christen und Juden. Diese multikulturelle Identität ist bis heute unsere DNA".

Der Islam in Bosnien habe während der Herrschaft der Osmanen, unter Österreich-Habsburg und im kommunistischen Jugoslawien immer wieder neue Antworten auf veränderte Lebensumstände finden müssen und dadurch eine gewisse Resilienz gegenüber Extremen entwickelt.

Keine Chance für Extremismus

Natürlich gebe es heute auch muslimische Stimmen, die auf Abgrenzung setzten und Extremismus säen wollten. "Das sind wenige Einzelne", sagt Vladimir Andrle, "aber die Gesellschaft erlaubt es ihnen nicht, zu radikalen Aktionen zu greifen". Extremismus gebe es zudem nicht nur unter Muslimen, sondern auch bei Serben und Kroaten, was sich etwa in öffentlich präsentierten Naziemblemen im kroatischen Teil der Stadt Mostar äußere.

Vladimir Andrle vom jüdischen Sozialwerks "La Benevolencija" - hier auf einem Foto von 2021Bild: Vera Soldo/DW

Für die Muslima Garic ist es vor allem die von Nationalismus geprägte Politik, die die Weiterentwicklung Bosniens 30 Jahre nach dem Abkommen von Dayton hemmt. Bosnien kämpft mit hoher Arbeitslosigkeit, Korruption, Vetternwirtschaft und fehlender Rechtsstaatlichkeit und hat es bisher nicht geschafft, die Vergangenheit aufzuarbeiten. "Dayton hat zwar Frieden geschaffen, aber keinen stabilen Staat", sagt Garic.

Dayton machte Juden zu Bürgern zweiter Klasse

Zu den Unzulänglichkeiten von Dayton gehört, dass das Abkommen Juden und andere Minderheiten diskriminiert. Angehörige dieser als "Andere" eingestuften Ethnien haben - im Gegensatz zu Mitgliedern der "staatsbildenden Völker" - weder das Recht, für die Präsidentschaft noch für einen Sitz im Haus der Völker, dem Oberhaus des Parlaments, zu kandidieren.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat seit dem Jahr 2009 diese Praxis sechsmal als nicht vereinbar mit der EU-Menschenrechtskonvention verurteilt. Doch die Urteile wurden nicht umgesetzt. Für eine Änderung der Verfassung wäre ein Konsens der Vertreter aller drei staatsbildenden Ethnien notwendig - den es in Bosnien in keiner politischen Frage gibt.

Heute, 30 Jahre nach Dayton bleiben die Perspektiven für Bosnien schwierig. "Wir teilen schwierige Umstände, egal ob Juden, Christen oder Muslime", sagt Vladimir Andrle. "Armut, Wirtschaftskrise, fehlende Perspektiven und mangelnde Rechtsstaatlichkeit treffen alle".