Friedrich Merz: Fast-Kanzler im Wartestand
15. April 2025
Im Grunde sitzt Friedrich Merz derzeit, wenn man so will, im Wartezimmer für das Kanzleramt. Der Kandidat ist politisch und medial bereits so eine Art Vor-Kanzler. Aber letztlich weiß er noch nicht definitiv, ob er je Kanzler sein wird. Nach jetziger Planung soll der Bundestag am 6. Mai darüber entscheiden. Zuvor aber läuft auf Seiten der Sozialdemokraten bis zum 29. April das Mitgliedervotum über den Koalitionsvertrag.
Dabei wäre der Schritt ins Kanzleramt die letzte Stufe auf einer ungewöhnlichen politischen Karriereleiter - und zugleich ein Schritt ins Unbekannte. Denn noch nie trug der nun 69-jährige Merz konkrete politische Führungsverantwortung. Er war nie Bundesminister oder Ministerpräsident, nicht einmal Bürgermeister einer Kleinstadt. Und nun wäre er der bei Amtsantritt älteste Kanzler seit Konrad Adenauer, dem ersten Regierungschef von 1949 bis 1963.
Zudem: In den vergangenen Wochen nahm er erstmals überhaupt an Parteiengesprächen zur Bildung einer Regierungskoalition teil. Das wurde ihm von Medien oder auch nicht namentlich zitierten Vertretern aus den Reihen der Verhandler gelegentlich vorgehalten. Sowohl die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken als auch CSU-Chef Markus Söder hatten dagegen Erfahrungen, wie da gerungen und gestritten wird. Künftig will Merz als Regierungschef und Moderator diese Drei-Parteien-Koalition führen.
"Transatlantiker, Europafreund"
Merz sei "Transatlantiker, Europafreund und Reformer", schrieb die "Wirtschaftswoche". Damit sei er "vielleicht genau der richtige für diese Zeiten".
Merz gehörte von 1989 bis 1994 dem Europäischen Parlament an. Dem folgten 15 Jahre im Bundestag von 1994 bis 2009, in denen er es bis an die Fraktionsspitze schaffte, dann aber einen Machtkampf gegen die aufstrebende Angela Merkel verlor. Während dieser Jahre zählte er zu jenen, die oft auf das Verhältnis der Bundesrepublik zu den USA schauten.
Der Wirtschaftsjurist Merz aus dem Sauerland, einer nordrhein-westfälischen Gegend östlich des Ruhrgebiets, ist dort bis heute beheimatet. Diese Region ist geprägt vom Mittelstand, ländlich-touristisch und konservativ-katholisch.
Er war deutlich traditionell-konservativer als seine ostdeutsche Konkurrentin, die promovierte Physikerin Merkel. Und Merz war früh einer der engen Vertrauten des CDU-Politikers Wolfgang Schäuble (1942-2023), der über 50 Jahre dem deutschen Parlament angehörte.
Nachdem Merz 2009 nicht erneut für den Bundestag kandidierte, machte er Karriere in der Wirtschaft. Von 2016 bis 2020 war er Aufsichtsratsvorsitzender des weltgrößten Vermögensverwalters Blackrock in Deutschland. In dieser Zeit hatte er häufig in den USA zu tun.
Merz stellt Taurus-Lieferung in Aussicht
Erst 2021 kandidierte er wieder für den Bundestag und wurde gewählt. Nun ist der CDU-Chef der wahrscheinlichste nächste Bundeskanzler und macht allmählich seine Pläne für den Fall seiner Kanzlerschaft konkreter. Er wird da mitunter deutlicher als der derzeit noch geschäftsführend als Kanzler tätige Olaf Scholz. Und ausdrücklich verweist er immer mal wieder auf seine Kontakte zu europäischen Regierungschefs, die er seit Monaten pflege. Mal war es ein Abendessen mit Emmanuel Macron im Elysee-Palast, mal sind es bilaterale Gespräche in Berlin oder Brüssel. Zudem will er möglichst noch vor der Sommerpause in die USA zu Präsident Donald Trump reisen.
Das deutlichste Beispiel: Acht Tage vor dem Oster-Wochenende äußerte sich Merz in einem einstündigen Fernsehgespräch zur weiteren Militärhilfe für die Ukraine und schritt dabei weit über eine von Kanzler Scholz immer wieder nachgezeichnete rote Linie hinaus. Einige Stunden vor der ARD-Talksendung "Caren Miosga" hatte die russische Armee bei einem Raketenangriff auf die ukrainische Stadt Sumy dutzende Zivilisten getötet und über hundert verletzt.
Merz sprach von einem "schweren Kriegsverbrechen". Und er stellte Kyjiw die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in Aussicht, die mit ihrer großen Reichweite und Durchschlagskraft der bedrängten Ukraine helfen und Russland Probleme bereiten könnten. Er habe "immer gesagt, dass ich das auch nur in Abstimmung mit den europäischen Partnern tun würde". Aber auch Briten, Franzosen und Amerikaner lieferten bereits Marschflugkörper. Wenn die Lieferung mit den Verbündeten abgestimmt sei, "dann sollte Deutschland sich daran beteiligen". Denn: "Die ukrainische Armee muss aus der Defensive herauskommen - sie reagiert ja immer nur." Sie müsse aber einen "Teil dieses Geschehens bestimmen können".
Ausdrücklich erwähnte er sogar die Möglichkeit, dass die Ukraine jene Krim-Brücke zerstören könnte, die die wichtigste und strategisch relevante Verbindung zwischen Russland und der von Russland besetzten und einseitig annektierten Halbinsel Krim darstellt. Mit seiner Diktion und dieser Konkretheit stellt sich Merz deutlich gegen seinen Vorgänger. Olaf Scholz hatte stets Taurus-Lieferungen abgelehnt und vor jeder weiteren Eskalation zwischen Russland und der Ukraine gewarnt.
Die Erschütterung nach der Wahl
Dabei ist die weitere Unterstützung der Ukraine nur ein Element der größeren Erschütterung, die Deutschland auch in Folge der neuen US-Politik bald nach der Wahl politisch beschäftigte und zeitweise Ansehen und Glaubwürdigkeit des Kanzlerkandidaten Merz abstürzen ließ.
Über Monate hatten Merz und andere Unionspolitiker im Bundestag und bei Wahlkampfveranstaltungen die hohe Bedeutung der europäisch vorgeschriebenen Schuldenbremse betont und entsprechende Finanzdisziplin des Bundes angemahnt. Das endete mit dem Beginn der Sondierungsgespräche von SPD und CDU/CSU. Und führte Mitte März zu einem in der Geschichte der Bundesrepublik einmaligen Beschluss von Bundestag und Bundesrat. Künftig gibt es keine Obergrenze für Verteidigungsausgaben. Zudem soll ein 500-Milliarden-Euro-Paket Deutschlands marode Infrastruktur voranbringen - verbunden mit einer Abkehr von der Schuldenbremse, deren Einhaltung die Union im Wahlkampf noch versprochen hatte.
"Wir haben große Aufgaben vor uns", die angemessene Antworten erforderten, sagte Merz bei "Caren Miosga". Da schaue er "nicht jeden Tag auf Umfrageergebnisse". Der CDU-Politiker sagt, er wolle, dass Deutschland wieder "mutiger und zuversichtlicher" werde.
Bei all dem sitzt Merz und allen etablierten Parteien die in Teilen rechtsextreme AfD im Nacken. Deren Erstarken bei der jüngsten Wahl, sagen Beobachter, habe die zukünftigen Koalitionäre dazu bewogen, eine rigidere Politik gegenüber Flüchtlingen und Bemühungen um mehr Sicherheit im Innern in den Koalitionsvertrag zu nehmen.
Mit Blick auf die von ihm beschworene "Brandmauer" gegenüber der "Alternative für Deutschland" hatte Merz noch wenige Tage vor der Bundestagswahl national und international für Aufsehen und Irritationen gesorgt. Bei einer Abstimmung zur Migrationspolitik legte er es im Parlament darauf an, dass schlussendlich die verbliebene rot-grüne Koalition, die im Plenum keine Mehrheit mehr hatte, von Union und FDP mit den Stimmen aus der AfD überstimmt werden sollte. Auch in Teilen der deutschen Zivilgesellschaft kochte die Empörung darüber hoch.
Nun will Merz das Selbstbewusstsein der Menschen in Deutschland stärken. "Wir sind ein großartiges Land mit über 80 Millionen Menschen, die hier leben, arbeiten, sich um ihre Familien kümmern", so Merz. Er wolle zeigen, "dass sich die Anstrengung lohnt".
Nach dem Mitgliedervotum der Sozialdemokraten und einem kleinen Parteitag der CDU wird Ende April feststehen, ob die Mehrheit der Koalition am 6. Mai im Bundestag Merz zum Kanzler wählen wird. Es wäre, so oder so, der Höhepunkt einer ungewöhnlichen politischen Laufbahn.