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Fußball ohne Pause: Verletzungen programmiert (?)

Calle Kops dpa, Sportschau.de
21. August 2020

Der Ball rollt wieder in Europa und das nahezu pausenlos. Ein Turnier jagt das nächste, bis zum Sommer 2021. Topspieler wie Joshua Kimmich kommen auf einst unvorstellbare Einsatzzahlen. Ist das noch vertretbar?

Fussball UEFA EM 2020 Qualifikation l Deutschland vs Weißrussland - Joshua Kimmich
Hart am Ball: Joshua Kimmich (r.)Bild: Reuters/L. Kuegeler

Es ist viel diskutiert worden in der durch Corona bedingten spielfreien Zeit. Wie kann man weiter machen mit dem Fußball? Herausgekommen ist ein europaweiter Spielplan, den es so noch nie gegeben hat. Wegen der Wiederaufnahme des Spielbetriebs im Europapokal am 6. August gibt es Fußball, gefühlt fast ohne Unterbrechung, bis zum Finale der Nachhol-EM am 11. Juli 2021. Und die folgende Pause bis zur Bundesliga-Saison 2021/22 fällt dann auch nicht üppig aus.

RB Leipzig ist bei der Fortsetzung der Champions League bis ins Halbfinale gekommen, Bayern München absolviert mit dem Finale gegen PSG sogar noch ein Spiel mehr in Lissabon. Dazu kommt das verschobene Achtelfinal-Rückspiel gegen Chelsea, dass die Bayern vor der Abreise nach Portugal auch noch spielen mussten. Viele wichtige Einsätze in kurzer Zeit, auch vor dem Hintergrund, dass Mitte September die neue Saison startet und viele Spieler der in Lissabon beteiligten Teams schon Anfang September zu den Nationalmannschaften reisen, um in der Nations League zu spielen.

Verschärftes September-Problem für DFB-Kicker

Die Rückkehr der DFB-Elf nach fast zehn Monaten Corona-Zwangspause mit den Partien am 3. September gegen Spanien und drei Tage später in der Schweiz sieht Bayern-Coach Hansi Flick kritisch. Alle DFB-Akteure, die im August mit ihren Klubs am Europapokal teilnehmen, müssten eigentlich im Anschluss "mindestens zwei Wochen Urlaub und zwei Wochen Vorbereitung" auf die neue Saison erhalten, sagte Flick. Der 55-Jährige erwartet von Bundestrainer Joachim, Löw eine Sonderrolle für die viel belasteten Bayern-Profis. "Es ist eine ganz besondere Situation, die so noch nie da war. Unsere Spieler, aber auch von den anderen deutschen Vereinen, die international noch dabei sind, benötigen Zeit zur Regeneration", sagte der Münchner Chefcoach mit Blick auf die schwierige Sommerplanung.

Sportpsychologin Jeannine OhlertBild: DSHS

Flick steht mit seinen Forderungen nicht alleine da, auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilen seine Bedenken. Jeannine Ohlert von der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS) sieht im engen Terminkalender "eine hohe Belastung" für die Profis. "Ich verstehe das schon, dass jeder Verband seine Wettbewerbe irgendwie noch voll durchziehen will. Aber wenn keiner zurücksteckt, wird es irgendwann schwierig", sagte die Sportpsychologin der DW. "Ich vermute, dass es eine Weile lang gutgeht, aber irgendwann werden die Belastungsausfälle mehr werden. Optimal ist es sicher nicht."

Auch die Spielergewerkschaft FIFPro warnte aufgrund der prall gefüllten Kalender vor zu hoher Belastung und erhöhtem Verletzungsrisiko für Profifußballer. In ihrem Ende Juli veröffentlichten Report mit dem Titel "Am Limit" erneuert die FIFPro unter anderem ihre Forderungen nach längeren Pausen zwischen Spielen und nach langen Flugreisen sowie einer mindestens vierwöchigen Sommer- und einer zweiwöchigen Winterpause weltweit. "Der internationale Match-Kalender ist dichter geworden. Gleichzeitig ist das Spiel schneller, physischer und globaler als jemals zuvor", heißt es in dem 40 Seiten umfassenden Dokument. Besonders betroffen von der Terminhatz seien die Topspieler. Für die Studie wurden die Einsatz-, Reise- und Ruhezeiten von 543 internationalen Profifußballern analysiert.

Nach der Nations League geht es nahtlos weiter

Ungeachtet dessen ist bereits eine Woche nach den Nations-League-Partien die erste Runde des DFB-Pokals geplant, die Bundesliga startet wiederum eine Woche später. Die Gruppenphase in der Champions League 20/21 beginnt am 20. Oktober, der letzte Spieltag ist - wie in den vergangenen Jahren auch - schon für die erste Hälfte des Dezembers angesetzt.

Auch in der Bundesliga ist die Taktung äußerst eng, sie soll am 19. September wieder starten. Der letzte Spieltag des Kalenderjahres 2020 ist für das Wochenende um den 19. Dezember angesetzt, der erste 2021 folgt direkt nach dem Neujahrstag. Einen Tag vor Heiligabend steht noch eine Runde im DFB-Pokal an. Die lange Saison endet erst mit der in den kommenden Sommer verschobenen EM, die vom 11. Juni bis zum 11. Juli 2021 ausgespielt werden soll.

Enge Taktung, kaum Pausen: Die Nationalspieler treten schon im September wieder in der Nations League anBild: Reuters/T. Schmuelgen

Und gerade diese europaweite EM könnte für die Akteure eine harte Aufgabe werden, die psychisch nicht zu unterschätzen ist. "Man darf nicht vergessen: Wenn ständig viele Spiele sind, ist das auch mit vielen Reisen verbunden, national und international", sagt DSHS-Sportpsychologin Ohlert und weist darauf hin, dass dieses Ständig-unterwegs-sein unterschiedlich starke negative Auswirkungen auf die einzelnen Spieler haben kann "Bei dem einen ist es vielleicht tatsächlich die körperliche Belastung während des Spiels, aber bei anderen sind es mehr diese mentalen Sachen, wie der Reisestress." Den seien die Profi-Fußballer zwar grundsätzlich gewohnt, doch wenn er in extremem Maße auftrete, könne er durchaus zu Beeinträchtigungen führen.

Extrembelastung für Topspieler wie Kimmich

Insbesondere für Nationalspieler die in Diensten von Europas Top-Klubs stehen, bedeutet die aktuelle Terminplanung eine enorme Belastung. Joshua Kimmich beispielsweise verpasste seit Sommer 2018 nur zwei Pflichtspiele des FC Bayern, der in allen Wettbewerben in der Regel sehr lange mitspielt. In der DFB-Elf bestritt der 25-Jährige seitdem 16 Spiele, wobei er jeweils von der ersten bis zur letzten Minute auf dem Platz stand. In der Saison 2018/19 spielte Kimmich 57 von 58 Partien mit Verein und Nationalmannschaft durch, und das auf sehr laufintensiven Positionen. In der Bundesliga wurde für den Bayern-Profi eine durchschnittliche Laufstrecke von 12,1 Kilometern pro Partie gemessen. In Champions League und Nationalmannschaft dürfte er von seinem Schnitt aber nicht weit abweichen.

70 Pflichtspiele, fast immer 90 Minuten lang auf dem Platz: Joshua Kimmich (u.)Bild: Imago Images/J. Huebner

Sollte das kommende Jahr für Kimmich, seinen Klub und die Nationalmannschaft mit einem möglichen Finale bei der Europameisterschaft 2021 nach Wunsch laufen, könnte er auf mehr als 70 Pflichtspiele kommen. Schließlich kommen noch die erwähnte Nations League, Testspiele mit der DFB- Auswahl und die Qualifikation für die Weltmeisterschaft 2022 hinzu. Kimmich ist sicher ein extremes Beispiel, da er nur selten von den Trainern eine Pause bekommt und auch selten verletzt ist.

Schließlich steht ihm im Verein und bei der Nationalmannschaft professionelle Betreuung zur Seite, was aber wohl nicht jeder Spieler von sich behaupten kann. Gerade bei den ganz jungen Fußballern hat DSHS-Sportpsychologin Ohlert Bedenken und warnt: "Wenn sie 19 sind, dann wollen sie natürlich spielen. Teilweise spielen sie dann schon bei den Profis mit aber auch noch in einem U-Team. Das geht halt nicht." Das sei eine zu hohe Belastung, sowohl körperlich als auch mental, weil einfach nicht genug Zeit bleibe um mal andere Dinge zu tun und die nötigen Ruhephasen zu erhalten.

Viele mahnende Stimmen

Das Thema der Überlastung der Top-Kicker ist natürlich nicht neu. Bereits im Jahr 2014 sagte Trainer Jürgen Klopp: "Bei den Spitzenspielern im Fußball sind wir schon lange über den Bereich hinaus, in dem es vertretbar ist. Die Spieler kommen relativ schnell an die Stelle, wo die Belastung nicht mehr okay ist." Der damalige BVB-Trainer und heutige Coach des FC Liverpool forderte: "Wir müssen irgendwann das Rad zurückdrehen." Auch Manchester City's Star-Coach Pep Guardiola äußerte sich damals ähnlich. Noch in Diensten von Bayern München sagte der Spanier aufgrund der hohen Belastungen: "Wir killen die Spieler. Wir verlangen zuviel von ihnen."

Für verletzungsanfällig Spieler wie Borussia Dortmunds Marco Reus wären längere Pausen besserBild: picture-alliance/Avanti-Fotografie

Im Lichte von Corona und dem Zwang, so viele Wettbewerbe wie möglich zu Ende zu bringen und die verschobenen Turniere in der Kürze der Zeit nachzuholen, ist deutlich geworden, dass die vielen mahnenden Stimmen von den Verbänden weitgehend ignoriert worden sind. Dennoch sieht DSHS-Sportpsychologin Ohlert es im Gespräch mit der DW positiv, dass immer mehr über körperliche und vor allem auch psychische Überbelastung von Profis gesprochen wird: "Weil sich was ändern muss. Man kann die Spieler ja nicht die ganze Zeit verheizen", sagt Ohlert. "Sonst sind sie mit Ende Zwanzig sowohl körperlich invalide als auch mental total fertig, weil sie ständig irgendwie unterwegs sind. Das darf eigentlich nicht sein."

Wie weit das Bewusstsein für die Thematik wirklich ist, wird das kommende Fußballjahr zeigen. Sollten aufgrund der Spielfülle die ersten schwerwiegenden Verletzungen auftreten, könnte sich die Zahl der namhaften Kritiker deutlich erhöhen. Möglicherweise kommen dann auch von Spielerseite vermehrt Proteste und die Warnungen finden mehr Gehör. Allerdings könnte es für den einen oder anderen verletzten Profi dann schon zu spät sein.

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