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Fußball in Kolumbien: Spielfeld der Konflikte

Ronny Blaschke
21. Mai 2021

Seit April protestieren die Menschen in Kolumbien gegen soziale Ungleichheit und Polizeigewalt. Wieder ist der Fußball ein Sinnbild für die Krise: Die Copa America wird nun nicht in Kolumbien gespielt.

Proteste in Kolumbien vor dem Romelio Martinez Stadion
Demonstranten vor dem Stadion des kolumbianischen Clubs America de CaliBild: AP/dpa/picture alliance

Die erste Halbzeit in der kolumbianischen Hafenstadt Barranquilla dauerte mehr als eine Stunde. Mehrfach musste das Spiel zwischen Gastgeber America de Cali und dem brasilianischen Verein Atletico Mineiro unterbrochen werden. Blendgranaten explodierten in den umliegenden Straßen, Polizeisirenen heulten, Demonstranten brüllten ihren Frust heraus. Für einige Minuten zogen sich die Spieler in die Kabinen zurück, bis das Tränengas verzogen war. Die Partie im südamerikanischen Wettbewerb Copa Libertadores wurde zu Ende gespielt, doch dafür interessierte sich fast niemand.

Kolumbien erlebt eine Staatskrise - wieder einmal. Seit Ende April demonstrieren immer wieder Zehntausende gegen Ungleichheit, Polizeigewalt und Korruption. Mehr als vierzig Menschen sollen bei den Protesten ums Leben gekommen sein, mehr als 800 wurden verletzt. "Das soziale Gefälle ist in Kolumbien besonders groß. Bildung, Medizin, Steuersystem - überall werden Menschen mit geringem Einkommen benachteiligt", sagt die kolumbianische Fußballerin und Aktivistin Juliana Lozano. "Die Menschen wollen ein Leben in Würde, doch sie werden von der Polizei brutal niedergeschlagen. Niemand denkt gerade über Fußball nach, denn es gibt Wichtigeres."

Copa America nun komplett in Argentinien

Vier Spiele der kontinentalen Wettbewerbe wurden in den vergangenen Tagen aus Kolumbien nach Paraguay und Ecuador verlegt. Die Gewerkschaft der kolumbianischen Fußballer wandte sich mit einem offenen Brief an den Fußballverband: "Solange die Situation der öffentlichen Ordnung, die das ganze Land betrifft und unser Wohlbefinden gefährdet, nicht gelöst ist, bitten wir Sie, keine weiteren nationalen Spiele anzusetzen." Es ist möglich, dass die kolumbianische Liga bis Anfang Juni noch keinen Meister ausgespielt hat.

Aufgeheizte Stimmung beim Spiel zwischen America de Cali und Atletico MineiroBild: Washington Alves/AFP/Getty Images

Viel schwerer wiegt jedoch, dass die Copa America, das wichtigste Turnier in Lateinamerika, nun nicht wie geplant in Kolumbien stattfinden kann. Eigentlich hatte das Land ab dem 13. Juni gemeinsam mit Argentinien das Turnier austragen wollen. In vier kolumbianischen Städten - in Barranquilla, Bogota, Cali und Medellin - sollten 15 der 28 Turnierspiele stattfinden. Das Finale war für den 10. Juli in Barranquilla angesetzt. Wegen der angespannten politischen Lage bat Kolumbien darum, das Turnier auf November zu verschieben. Das lehnte der südamerikanische Verband CONMEBOL jedoch ab und erklärte, die Copa America werde nun komplett in Argentinien ausgespielt. 

Das ist ein schwerer Rückschlag für die kolumbianische Regierung und den nationalen Fußballverband. "Der Fußball ist in Kolumbien eine Quelle für Nationalstolz", sagt der britische Lateinamerika-Forscher Peter Watson. "Das Trikot des Nationalteams ist eines der wenigen Symbole, das die gesellschaftlichen Spaltungen vorübergehend überwinden kann." Immer wieder haben sich die Kolumbianer hinter ihrem Nationalteam versammelt. Sie suchten nach einem Gemeinschaftsgefühl und wollten sich von kriminellen Strömungen abgrenzen, von Drogenkartellen oder von der linken Untergrundbewegung FARC. Wie andere Regierungen vor ihm wollte nun auch der aktuelle Präsident Ivan Duque mit einem großen Turnier wie der Copa America für nationalen Glanz sorgen. Doch der Fußball kann auch die politischen Gräben vertiefen, wie ein Blick in die Vergangenheit zeigt.

Drogenkartelle unterwanderten die großen Klubs

Kolumbianische Medien erinnern an frühere Gastgeber-Rollen, die zu Sinnbildern für Krisen wurden. 1986 sollte die Fußball-Weltmeisterschaft in Kolumbien stattfinden, doch die Regierung gab das Turnier 1982 wegen finanzieller Probleme zurück, Mexiko sprang ein. 2001 wollte Kolumbien dieses Trauma hinter sich lassen und erstmals die Copa America austragen.

"Kein Frieden, kein Fußball", steht auf dem Transparent des Demonstranten in BarranquillaBild: Daniel Munoz/AFP/Getty Images

Um die Jahrtausendwende galt Kolumbien als eine führende Nation - zumindest im Fußball. Die Nationalmannschaft hatte sich für die Weltmeisterschaften 1990, 1994 und 1998 qualifiziert. Große Vereine waren jedoch von Drogenkartellen unterwandert. Nach seinem Eigentor bei der WM 1994 gegen die USA wurde der kolumbianische Spieler Andres Escobar erschossen. Vier Jahre später widmete der Nationalspieler Antony de Avila ein Tor zwei inhaftierten Drogenbossen, die seinen Klub America de Cali finanziert hatten. "Die Kartelle wollten die Spieleraufstellung des Nationaltrainers beeinflussen", erinnert sich Jürgen Griesbeck, der in den 1990er Jahren Fußballprojekte in Kolumbien organisierte. "Morddrohungen und Gewalt gehörten zum Alltag."

Pokal des Friedens

Auch die FARC gefährdete die Copa America 2001. Zu jenem Zeitpunkt hatten die selbst ernannten "Revolutionären Streitkräfte" seit fast vierzig Jahren den kolumbianischen Staat bekämpft. Anschläge und Attentate, Zehntausende Tote, Hunderttausende Flüchtlinge. Kurz vor dem Turnier 2001 zündete die FARC Bomben und entführte Hernan Mejia, den Vizepräsidenten des kolumbianischen Fußballverbandes. Der Verband CONMEBOL wollte das Turnier absagen, doch die kolumbianische Regierung und ihre Sponsoren waren dagegen. Nach Terrordrohungen zogen sich die Teams aus Argentinien und Kanada zurück. Doch die Copa America fand statt, und Kolumbien gewann den Titel.

Der damalige Staatspräsident Andres Pastrana sprach von einem "Pokal des Friedens". Es war die Basis für eine Geschichte, die vor allem die Regierung unter Juan Manuel Santos ab 2010 weiterschreiben wollte. "Santos 'fußballisierte' die politische Debatte", sagt der Kolumbien-Experte Peter Watson. "In vielen Reden und Tweets beschrieb er die Nationalspieler als Botschafter für Einigkeit, Disziplin und Anstrengung."

Freundschaftsspiele zwischen früheren Feinden

In den Friedensverhandlungen mit der FARC ab 2012 nutzte Santos den Fußball für Begegnung und Versöhnung. Die kolumbianische Nationalmannschaft qualifizierte sich für die WM 2014. Das Verteidigungsministerium zeigte in Kurzfilmen signierte Fußbälle, die über FARC-Gebieten im Dschungel abgeworfen wurden, dazu die Botschaft: "Guerilla, verpasse die WM nicht, demobilisiere dich, ich halte einen Platz für dich frei." Bei den Friedensverhandlungen trugen auch FARC-Unterhändler das Nationaltrikot. Seit dem Waffenstillstand 2016 finden Freundschaftsspiele zwischen den langjährigen Feinden statt. NGOs nutzen Fußball zur Konfliktschlichtung.

Wandert die Copa America wegen der Proteste in Kolumbien jetzt komplett nach Argentinien?Bild: Juan Barreto/AFP/Getty Images

Doch der Frieden bleibt brüchig. Immer wieder kritisieren langjährige FARC-Mitglieder die kolumbianische Regierung und fordern eine Wiederbewaffnung der Rebellen. Die aktuellen Proteste gegen soziale Ungleichheit könnten die Lage weiter destabilisieren. "Politiker können mit Fußball die nationale Einheit beschwören", sagt die kolumbianische Aktivistin Juliana Lozano. "Aber sie können damit auch die Bevölkerung manipulieren."

Viele Kolumbianer leiden noch immer unter der Corona-Pandemie, mehr als 82.000 Menschen sind an oder mit dem Virus gestorben, erst neun Prozent der Bevölkerung haben eine erste Impfung erhalten. Viele Kolumbianer wollten mit der Copa America ohnehin nichts zu tun haben. Trotzdem tragen sie weiter das gelbe Nationaltrikot - während der Proteste auf den Straßen.

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