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Obdachlosen-WM: "Wir wollen etwas Besonderes erreichen"

Matt Pearson in London
19. September 2024

Fußball-Nationalmannschaften von Obdachlosen aus aller Welt treffen sich in Südkorea zum "Homeless World Cup". Für viele Spieler geht es bei dem Wettbewerb um weit mehr als nur um den Pokal.

Englands Team für die Fußball-WM der Obdachlosen in Seoul
Englands Team für die Fußball-WM der Obdachlosen in SeoulBild: Edinburgh Photographic

Eine feuchte Matratze, eine leere Holzkiste, auf dem Beton verstreute Pappreste. Auf dem Weg von der U-Bahn-Station zu den Fußballplätzen im Londoner Viertel Shoreditch im Osten der Metropole passiert man eine Schlafstelle unter einer Eisenbahnbrücke. Einer von zahllosen Belegen für Obdachlosigkeit in einer der reichsten Städte der Welt.

Auf den kleinen Fußballfeldern in Shoreditch trainiert eine junge Mannschaft, angeleitet und angetrieben von ihrem schottischen Trainer. Die Spieler tragen rote Trikots mit dem Aufdruck "England". In Kürze werden sie als Team bei der Obdachlosen-Weltmeisterschaft in der Hauptstadt Südkoreas spielen.

Es ist der erste Homeless World Cup in Asien. 56 Mannschaften aus 44 Nationen nehmen an der WM teil, auch Deutschland ist mit einer Mannschaft vertreten. Die WM wird vom 21. bis 28. September ausgespielt. Die Spieler dürfen ihre jeweilige Nation nur bei einem Turnier vertreten.

Seine Premiere feierte der Wettbewerb 2003 in Graz in Österreich. Seitdem wurde die WM - mit Ausnahme der Jahre 2020 bis 2022 wegen der Coronavirus-Pandemie - jährlich ausgespielt. Das Turnier in Südkorea ist die 19. Auflage. Finanziert und organisiert wird der Homeless World Cup von einer gleichnamigen Stiftung mit Sitz in Schottland. Im vergangenen August unterzeichnete die Stiftung einen Partnerschaftsvertrag mit dem Fußball-Weltverband FIFA

Bürgerkriegsflüchtling aus Äthiopien

Einer der Spieler, die in Seoul für England auf dem Platz stehen werden, ist Mikiale Tsegay, ein Flüchtling aus Äthiopien. Wie seine Mannschaftskameraden stieß er auf Vermittlung von "Street Soccer" zum Team. Die Wohltätigkeitsorganisation organisiert Fußball für Obdachlose und stellte auch das englische Team für die WM zusammen.

Tsegay musste 2021 aufgrund des Bürgerkriegs, der mehr als 500.000 Menschen das Leben kostete, aus seinem Heimatland fliehen. "Es war eine sehr, sehr harte Zeit in meinem Leben. Ich wusste nicht, wo meine Familienangehörigen waren, ob sie lebten oder tot waren", sagt Mikiale der DW. "Ich habe meinen älteren Bruder verloren. Ich habe auch so viele meiner Freunde verloren."

Mit sieben anderen in einem Zimmer

Als er in Großbritannien eintraf, hatte sich die britische Regierung noch nicht eindeutig zum Bürgerkrieg in Äthiopien positioniert. Deshalb hatte Tsegay Mühe mit seinem Asylantrag. "Als ich ihnen erzählte, was passiert war, glaubten sie mir zunächst nicht. Es war sehr schwierig", erinnert er sich. "Nach zwei Jahren änderten sich die Dinge allerdings, und ich erhielt Schutz. Aber es war immer noch sehr schwer, im Hotel zu wohnen und keine Verbindung nach Hause zu haben. Das Internet war ausgefallen, und es gab keine Möglichkeit zu kommunizieren."

Mikiale Tsegay am Ball - er träumt von einer großen FußballkarriereBild: Edinburgh Photographic

Asylbewerber-Hotels wie jenes, in dem Mikiale zwei Jahre lang lebte, wurden im August bei den jüngsten migrantenfeindlichen Unruhen in Großbritannien angegriffen. Der Begriff "Hotel" ist in diesem Zusammenhang eher irreführend. Keine Spur von Urlaub oder gar Luxus. Häufig leben acht Personen einem Zimmer, sie erhalten je acht Pfund (9,50 Euro) pro Tag, selbst einfachste Kochgelegenheiten fehlen.

14 Prozent mehr Obdachlose in England innerhalb eines Jahres

Mikiale ist nicht der einzige Flüchtling, der England in Seoul vertritt. In der Mannschaft stehen aber auch einige einheimische Spieler, die aus den unterschiedlichsten Gründen ihr Dach über dem Kopf verloren haben. Nach Angaben der Wohltätigkeitsorganisation Shelter waren Ende 2023 in England 309.000 Menschen obdachlos, 14 Prozent mehr als im Vorjahr.

Es gibt keine internationale Definition von Obdachlosigkeit. In Großbritannien gelten Menschen nicht nur als obdachlos, wenn sie auf der Straße schlafen, sondern auch, wenn sie in Notunterkünften oder in unsicheren Behausungen leben.

Die zunehmende Obdachlosigkeit in Großbritannien und anderen reichen westlichen Ländern hat tiefe strukturelle, wirtschaftliche und politische Wurzeln. Der Ausweg, wenn es denn einen gibt, ist von Person zu Person unterschiedlich. Für Craig McManus, den Trainer des englischen Obdachlosen-Teams, lag er im Fußball.

Obdachlosen-WM als Wendepunkt

Im Jahr 2015 geriet McManus' Leben nach dem Tod seines Vaters aus den Fugen. Dazu kamen Alkohol- und Drogenprobleme. McManus verlor seinen Job, sein Haus, sein Auto und schlief im Winter auf den Straßen von Edinburgh. "Ich hatte mit so vielen Behörden zu tun, die mir eine Menge Fragen stellten: 'Bist du nüchtern? Bist du clean?' Dann kam plötzlich jemand und fragte: 'Wie heißt du, Kumpel? Zieh' dieses Leibchen an und komm' zum Fußballspielen", schildert der Schotte seinen ersten Kontakt mit "Street Soccer".

Craig McManus trainiert die englische Obdachlosen-NationalmannschaftBild: Sam McGill

"Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühlte ich mich wieder als Mensch. Ich fühlte mich als Teil von etwas. Niemand stellte mir Fragen. Aber ich wusste, dass ich mit ihnen reden konnte, wenn ich es brauchte, und wir bauten Vertrauen auf. Im Laufe der Zeit schaffte ich es, eine Reha zu machen, wurde nüchtern, wurde clean und kam mit einer anderen Einstellung heraus."

2016 spielte McManus für Schottland bei der Obdachlosen-WM 2016 in Glasgow. Für ihn persönlich war diese Heim-Weltmeisterschaft ein Wendepunkt - wie auch für viele andere Spieler. "Du siehst es an der veränderten Körperhaltung. Sie nehmen die Schultern zurück und stehen mit breiterer Brust da", sagte McManus, der heute beim englischen Zweitligisten FC Middlesbrough arbeitetet. Er ist dort stellvertretender Leiter der Stiftung des Klubs. "Es kann auch sein, dass sie mehr kommunizieren als vorher", sagt er.

Ansprechpartner auf Augenhöhe

Es gehe darum, den obdachlosen Spielern Hilfe und einen sicheren Raum zu bieten, sagt der Trainer: "Sie sollen uns vertrauen können, ohne uns als Autorität in ihrem Leben zu sehen. Wir stehen Seite an Seite. Wenn wir das geschafft haben, können wir sie wirklich dazu befähigen, etwas zu ändern."

Für den äthiopischen Flüchtling Tsegay hat dieser Prozess bereits begonnen. Seine Lebenssituation ist zwar immer noch schwierig, aber er ist nicht mehr in einem Hotel für Asylbewerber untergebracht und hatte bereits Probetrainings in semiprofessionellen Klubs in London.

Bei der Obdachlosen-WM in Seoul spielt Mikiale nach eigenen Worten auch für seinen im Bürgerkrieg getöteten Bruder. Der habe ihn immer dazu gedrängt, dem Fußball treu zu bleiben. "Wir wollen bei der WM etwas Besonderes erreichen. Wir wollen zeigen, dass man in jedem Verein spielen kann. Es gibt so viele Profispieler, die mit Kicken auf der Straße groß geworden sind." Sie wollten eine besondere Note in die englische Nationalmannschaft bringen, sagt Tsegay und fügt mit einem Lächeln hinzu: "Hoffentlich gilt auch für uns: Football is coming home."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

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