1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Die Stunde der Politik

Alexander Görlach
14. April 2020

Virologen sind in der gegenwärtigen Pandemie wesentliche Ratgeber für Politik und Gesellschaft. Entscheidungen können und dürfen aber nicht ihnen allein überlassen bleiben, meint Alexander Görlach.

Zitattafel Alexander Görlach

New York scheint für den Moment aus dem Gröbsten heraus zu sein. Die vergangene Woche war für den Bundesstaat und die Stadt eine schwere Prüfung: Jeweils rund 800 Todesfälle an drei Tagen hintereinander! Gleichzeitig gab es aber auch gute Neuigkeiten: Es kamen deutlich weniger Menschen neu auf die Intensivstationen. 17 waren es zuletzt nur. Gegen die täglich 300 neuen Fälle, die zuvor die Hospitäler überrannt hatten, wirkt dieser Rückgang fast wie ein Wunder. Die Maßnahmen des "social distancing" greifen.

Darüber hinaus wurden insgesamt viel weniger Krankenhausbetten gebraucht, als zuvor von Fachleuten prognostiziert: Mit notwendigen 140.000 Klinikbetten und 40.000 Intensivbetten rechnete Gouverneur Cuomo noch vor drei Wochen. Am Ende wurden "nur" rund 19.000 Betten und rund 5.000 Plätze in Intensivstationen gebraucht.

Virologen als Politiker?

Aufgrund dieser erfreulichen Entwicklung ist auch hier wie an vielen anderen Orten die Diskussion entbrannt, wie lange die Quarantäne noch anhalten soll. Einige schauen auf die Experten und ihre Vorhersagen, die sich nicht bewahrheitet haben und schließen daraus, dass man Virologen eben keine Politik machen lassen sollte.

Symbolfoto der Krise in New York: Auf Hart Island wurde vergangene Woche ein Massengrab angelegtBild: Reuters/L. Jackson

Hinter dieser Debatte steckt die generelle Frage, wie viele gewählte Vertreter und wie viele Experten ideal seien, um ein Gemeinwesen zu führen. Die Experten kennen ihr Genre bis ins kleinste Detail: Wir erinnern uns an die Expertenregierung von Mario Monti in Italien während der Finanzkrise vor einem Jahrzehnt. Gewählte Vertreter repräsentieren diejenigen, die sie gewählt haben. Sie sind also im Idealfall nahe bei den Menschen, müssen sich aber bei inhaltlichen Fragen von Experten helfen lassen.

Politik als Synthese

Politik, das wird auch in der COVID-19 Krise wieder klar, ist die Kunst des Abwägens verschiedener Maximalinteressen mit dem Ziel, ein gutes Ergebnis für die größtmögliche Zahl an Menschen zu erreichen. Am Beispiel der gegenwärtigen Krise bedeutet das: Ein Virologe mag - aufgrund des exzellenten Wissens auf seinem Gebiet - zu der Überzeugung kommen, dass wir alle am besten ein ganzes Jahr zu hause bleiben müssen. Er sieht virologische Fragestellungen isoliert und gibt auch nur dazu Auskunft - weil er in allen anderen Bereichen wie zum Beispiel der Ökonomie, Psychologie oder Soziologie nicht in gleicher Weise beschlagen ist. Die Vertreter der Wirtschaft wiederum schlagen Alarm: Wenn die Ökonomie für ein Jahr in einen Ruhezustand versetzt würde, könnte sich die Weltwirtschaft davon nicht mehr erholen. Andere weisen auf soziale Folgen der sozialen Distanzierung hin und betonen, dass steigende Arbeitslosigkeit aufgrund des Shutdowns zu Verelendung, Vernachlässigung von Kindern, Hunger, häuslicher Gewalt und mehr Suiziden führen. All diese Faktoren wiegen zudem in jedem Land aufgrund der spezifischen Ausgangslage in verschiedener Weise.

Andrew Cuomo, der Gouverneur des US-Bundesstaates New YorkBild: picture-alliance/dpa/J. Minchillo

Politikerinnen und Politiker müssen aus all' diesen verschiedenen Ratschlägen, die Experten verschiedener Disziplinen vortragen, zu einer Synthese kommen. Zu einem Vorschlag, der alle Szenarien abwiegt und miteinander ins Verhältnis setzt. Und der gleichzeitig auch so vermittel- und umsetzbar ist, dass die Menschen folgen können. New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo, angesprochen darauf, dass die Experten, denen er Gehör und Glauben geschenkt hat, mit ihren Zahlen weit daneben lagen, erwiderte, dass er lieber auf der sicheren Seite sein wolle als noch mehr Menschenleben zu verlieren.

Leadership ist gefragt

In der Zwischenzeit melden sich zusätzlich noch genügend andere Experten zu Wort, die ihre Sicht auf die Dinge, ihre Forschung, ihre Projekte dadurch bekannt machen wollen, indem sie sich an der etablierten Meinung abarbeiten. Diese Kakophonie an Stimmen verunsichert jedoch die Bürgerinnen und Bürger. Das ist die Stunde der Politik: Leadership ist gefragt. Ein exzellenter Virologe wie Christian Drosten wäre nicht zwingend ein guter Kanzler Drosten.

Die kommenden Wochen werden davon geprägt sein, die nächsten Schritte bei der Bekämpfung von COVID-19 zu diskutieren und in die Tat umzusetzen. Wir erleben eine Hoch-Zeit des Politischen und der Fähigkeit, auf der Grundlage von Fakten und Vorhersagen das Machbare zu destillieren und die Menschen zu führen.

Alexander Görlach lebt in New York und ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen