Corona stellt alles in den Schatten
22. Dezember 2020Zu Weihnachten liefert COVID-19 noch einmal dramatische Schlagzeilen und Bilder: Die britischen Inseln sind abgeriegelt, die Menschen in besonders heiklen Infektionszentren wie der Hauptstadt London können weder Land noch Stadt verlassen.
Diejenigen, die nach der Bekanntgabe des Lockdowns durch Premierminister Boris Johnson hektisch versuchten das Land zu verlassen, bildeten lange Schlangen - etwa am internationalen Bahnhof St. Pancras, der die Insel mit dem Kontinent verbindet. Sie wurden enttäuscht. Die Schließung der Grenzen für Menschen in Großbritannien, zu der sich Frankreich, die Niederlande, Belgien, Italien und auch Deutschland entschieden haben, wirkt surreal cineastisch: Wie oft haben wir Filme gesehen, die mit einem solchen oder ähnlichen Katastrophenszenario spielten!
Zentren der Hoffnung
Unterdessen gehen auf beiden Seiten des Kanals die Vorbereitungen für die Massenimpfungen voran. Nachdem die Europäische Union den Impfstoff einer Mainzer Firma zugelassen hat, können Menschen wahrscheinlich schon ab dem 27. Dezember geimpft werden.
Aber der Impfstoff reicht vorerst nicht aus: Deutschland bekommt in einem ersten Schub vier Millionen Dosen, die für zwei Millionen Menschen reichen. Denn jede Person muss zweimal, im Abstand von zwei Wochen, gespritzt werden. Allein die Gruppe derjenigen, die zuerst geimpft werden sollen - Menschen über 80 Jahre sowie Personen, die in Krankenhäusern und Altenheimen arbeiten - ist aber 8,6 Millionen Personen stark.
Der Mangel an Impfstoff wird begleitet von einem Kraftakt, überall im Land Impfzentren zu errichten, in Messehallen oder leerstehenden Supermärkten. Von diesen Zentren geht die Hoffnung auf die Wiederkehr eines normalen gesellschaftlichen Lebens aus. Insofern werden ihre Bilder - ob jetzt im Aufbau oder später im Betrieb - Eingang nicht nur in das nationale Gedächtnis Deutschlands finden.
Feiern in der Pandemie
In vielen Teilen der Welt wird nun Weihnachten gefeiert, gefolgt vom Jahreswechsel. Anfang Februar stehen in der Volksrepublik China, auf Taiwan, in Hongkong, in Singapur, Korea, Japan, Thailand, auf den Philippinen und Indonesien die Feierlichkeiten zum Chinesischen Neujahrsfest an. Zu beiden Gelegenheiten reisen die Menschen in Massen.
Jenseits eines religiösen oder spirituellen Sinngehalts, auf den die Feste dieses Jahr aufgrund der fehlenden Reisemöglichkeiten zurückgeworfen sind, bieten das Weihnachtsfest wie das Chinesische Neujahrsfest normalerweise den Anlass, einmal im Jahr die Familie zu sehen. Gerade in der Volksrepublik, wo Viele hunderte Kilometer von zuhause als Wanderarbeiter tätig sind, wird das die Menschen hart treffen. Die Menschen in China haben das bereits im vergangenen Winter erlebt, den Menschen in der christlich geprägten Welt stehen jetzt erstmals andere Weihnachten bevor, als sie es gewohnt sind.
Auch das wird Bilder produzieren, die wir so schnell nicht vergessen werden: Leere Kirchen, in denen kein Gesang erklingt und in denen die Priester alleine die Messe lesen - als ob die Christenheit ausgestorben wäre. Genauso wie die abgesperrte Stadt Wuhan am zurückliegenden Chinesischen Neujahrstag schreckliche Bilder geliefert hat, die sich in das kollektive Gedächtnis der Menschen in der Volksrepublik eingebrannt haben.
COVID-19 stellt alles in den Schatten
Die Moral dieser Kolumne soll nicht sein, herauszustellen, dass alle unter dem selben Himmel leben und dort ihr Schicksal teilen. Wenngleich die COVID-19 Pandemie für all diejenigen, die zuvor dafür noch nicht genug Belege sahen, offen gelegt hat, wie sehr das Menschengeschlecht miteinander verwoben ist und es nicht darauf ankommt, welchen Gott wir verehren oder wie wir aussehen. Vielmehr geht es darum, herauszustellen, dass die Bilder, von denen die Rede war, uns alle angehen. Und dass wir uns entsprechend verhalten müssen, um künftige Pandemien und andere apokalyptische Geiseln zu verhindern.
Denn wie viele Jahre wie dieses könnten wir überstehen - unsere Psyche, unsere Familien, unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unsere Weltordnung? Die Antwort ist: kein zweites! Jetzt schnellstmöglich impfen und dann bitte, bitte eine lange Pause. COVID-19 stellt alles, was davor war, in den Schatten. Nur durch eine bessere (Welt-)Politik und gemeinsame Anstrengung kann vermieden werden, dass uns eine noch schlimmere Plage als die gegenwärtige heimsucht.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hong Kong.