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Politik

Görlach Global: Die ganze Welt eine Stadt

Alexander Görlach - Carnegie Council for Ethics in International Affairs
Alexander Görlach
24. Dezember 2019

Fröhliche Weihnachten? In vielen westlichen Metropolen ist eine gewisse Sensibilität eingetreten, Menschen, die man nicht kennt, religiös zu vereinnahmen. In anderen Teilen der Welt herrscht ein ganz anderer Ton.

Es steht für mich außer Frage, dass das westliche Streben nach politischer Korrektheit bisweilen über das Ziel hinausschießt. Es heißt schlicht und ergreifend Weihnachtsmarkt, genauso wie es Sankt-Martins-Umzug heißt. Einige von denen, die das Christliche in unserer Kultur verbal umdeklarieren wollen, haben nicht die Sensibilität gegenüber religiösen Minderheiten im Sinn, sondern sind im Dauereinsatz gegen jede Form von kirchlich organisierter Religiosität.

Dabei verkennen sie das entscheidende Kriterium für den bisherigen Sprachgebrauch: Es wird nicht "Weihnachtsmarkt" gesagt, weil die Mehrheit der Deutschen Christen wären und somit bestimmte Rechte für sich geltend machen dürften. Sondern weil diese Märkte im Kontext des Weihnachtsfestes entstanden sind. Jeder ist dort willkommen, gleich welcher Herkunft oder Religion. Der Weihnachtsmarkt ist inklusiv, genauso wie es der Lampions-Umzug an Sankt Martin ist. Der große Heilige kann selbstverständlich auch in seinem selbstlosen Tun ein Vorbild sein. Wieso auch nicht?

Es ist entscheidend, dass wir freie Bürgerinnen und Bürger sind. Es geht nicht darum welche Religion wir haben, wie alt wir sind, welches Geschlecht und wen wir lieben. Unsere westliche und freie Lebensordnung beruht nicht auf der Anerkennung metaphysischer Prinzipien. Sie verbietet sie aber auch nicht. Und wenn man versehentlich einem Nicht-Christen ein frohes Weihnachtsfest wünscht, ist das kein Beinbruch, wenn die Intention eine gute war.

Studenten in Indien protestieren gegen die Reform des Staatsbürgerschaftsgesetzes Bild: DW/A. Ansari

Religion als Identitätsstifter

In Indien hingegen wird das Staatsbürgerprinzip, das ultimative Kennzeichen jeder Demokratie, abgeschafft. Muslime nicht willkommen. Und das in einem Land, in dem 200 Millionen Muslime leben und das umgangssprachlich als die größte Demokratie der Welt gilt? Man muss sich die Augen reiben. Denn hier geschieht etwas Bizarres: Der Nationalstaat hat Religion und die Dynastien als gemeinschaftsstiftende Größen vor zwei Jahrhunderten überwunden. Identifikation miteinander geschah fortan aufgrund gemeinsamer Sprache, Geschichte, aufgrund von Tabus und geographischer Bezüge. Indem aber Religion als Identitätsstifter wieder eingeführt wird, sei es in Indien oder an einem anderen Ort der Welt, wird unserer Weltordnung die Grundlage entzogen. Wir sind nun nicht mehr die, als die wir uns selbst identifizieren, sondern das, wozu andere uns machen. Dies könnte das Ende einer auf dem Einzelnen und seiner Würde beruhenden Gesellschaft sein.

Festzuhalten ist: Wir leben in der Welt von heute dauerhaft pluralistisch. Wir haben Freunde, die keine oder eine andere Religion als wir haben. Wir heiraten Menschen, die aus anderen Ländern stammen. Das sind keine vereinzelten Beispiele mehr, sondern Alltagserfahrungen vieler Menschen. Das bedeutet nicht, dass man seine eigene Religion oder Kultur aufgäbe. Aber diese eigene Religion und Kultur wird dauerhaft in Relation gesetzt oder auch banal nur verglichen mit den anderen, die einem auf täglicher Basis begegnen.

Pluralität und Pragmatismus

In diesem Sinne ist die ganze Welt eine Stadt geworden. Und es darf nicht wundern, dass die Metropole bereits in der Bibel ein verhasster Ort ist: Die "Hure Babylon" ist deswegen verrucht, weil dort alle möglichen Sitten, Religionen und Gebräuche nebeneinander existieren. Die Menschen dort sind nicht orthodox, sondern pragmatisch. Die gesamte Welt wird heute mehr und mehr ein solcher Ort. Wir wissen, auch in den entlegensten Winkeln, dass es da draußen noch andere gibt, die das Leben mit all seinen Herausforderungen auf der Grundlage ihrer Weltanschauung meistern. Diese Pluralität fordert alle heraus. Es gibt Diskussionen in der islamischen Gemeinde, ob man Christen ein frohes Weihnachtsfest wünschen darf oder ob das nicht den eigenen Glauben herabsetze. Die höchste sunnitische islamische Lehrinstitution, die Al Azhar Universität in Kairo, hat hingegen verkündet, dass Koran und Tradition gute Beziehungen zu Nicht-Muslimen (was Glückwünsche einschließe), als anständiges und gutes Benehmen nicht nur erlaubten, sondern gleichsam forderten.

Der hässliche Exklusivismus im Namen der Religion und der Rasse ist daher, hoffentlich, ein letztes Aufbäumen, bevor gelebte Pluralität der Normalfall für die Menschheit wird. Im Mittelalter wurden die heiligen Drei Könige an der Krippe als Vertreter der drei Kontinente, die damals bekannt waren, verehrt: Europa, Afrika und Asien. Die Menschheitsfamilie mag nicht an denselben kultischen Orten zusammen kommen. Wir brauchen das nicht, denn wir sind vielmehr dadurch verbunden, dass wir, mit Gottes Hilfe oder ohne, dieses Leben meistern müssen. Für die einen ist die Geburt des Herrn ein Grund zur Freude. Die anderen sehen schlicht in der Nachricht über die Geburt eines Kindes etwas Positives. Im Deutschen sagte man früher über eine schwangere Frau, dass sie "guter Hoffnung" sei. Hoffnung kann das Menschengeschlecht an dieser Stelle in seiner Geschichte mehr als gut gebrauchen. In diesem Sinne: Fröhliche Weihnachten!

Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.