Erdogans Großmacht-Träume führen in die Sackgasse
29. Oktober 2020Die Türkei unter Recep Tayyip Erdogan wird immer mehr zu einem Wiedergänger Russlands: Wie Wladimir Putin ist auch der türkische Machthaber davon überzeugt, dass seinem Land ein bestimmter Platz in der internationalen Ordnung zusteht. Und wenn das Land diesen Platz nicht zugewiesen bekommt, dann beeinträchtigt er die Weltgemeinschaft, in dem er Konflikte anzettelt und sich in militärische Auseinandersetzungen einmischt.
So wäre der Krieg, der vor einem Monat zwischen Armenien und Aserbaidschan erneut ausgebrochen ist, nicht derart eskaliert, hätte der türkische Machthaber nicht Drohnen und Söldner geschickt. Zudem hat er die Regierung Aserbaidschans aufgefordert, mit Unterstützung der Türkei gegen Armenien vorzugehen.
Interesse an der Eskalation
Seit dem Genozid an den Armeniern im Jahr 1915 - ein Verbrechen, das nach dem Willen von Erdogan nicht als solcher bezeichnet werden darf - sind die Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei eingefroren. Zwischen beiden Ländern gibt es keine diplomatischen Beziehungen. Nach einem Bericht der Jerusalem Post sei Ankara weiterhin an einer Eskalation des Konflikts interessiert. Türkische Medien flankierten den Willen der Regierung, in dem sie Geschichten publizierten, in denen von kurdischen Kämpfern die Rede ist, die aus Armenien heraus die Türkei bedrohten.
In den Streit um die Region Berg-Karabach, das formal zu Aserbaidschan gehört, seit 1988 aber de facto von den dort lebenden Armeniern unabhängig regiert wird, haben sich auch Russland und der Iran eingeschaltet. Diese drei Parteien kennen sich bereits bestens aus ihrem Mitwirken im Syrien-Konflikt. Die Interessen der drei Störer liegen im gegenwärtigen Konflikt im Südkaukasus ebenso wie in Syrien weit auseinander. Allen drei gemeinsam ist, dass sie nicht in erster Linie an einem Friedensschluss interessiert sind, sondern daran, ihre Macht in der Region auszuweiten. Nur so ist es zu erklären, dass die Türkei alles unternimmt, um den Krieg weiter anzuheizen, während zeitgleich ihr NATO-Partner USA einen Waffenstillstand zwischen den Kriegsgegnern aushandelt.
Die Osmanen sind zurück
Erdogan will offenbar neben Griechenland einem zweiten, ebenfalls christlichen Nachbarn zeigen, dass die Osmanen - wie er glaubt - mit alter Kraft und Macht zurück sind. Doch so hat er sich gegenüber seinen westlichen Partnern immer weiter in eine Sackgasse bugsiert.
Die Zeiten sind endgültig vorbei, in denen sich die Türkei als Brückenkopf zwischen islamischer und westlicher Welt gerieren konnte. Da wurde im Sommer dieses Jahres die Hagia Sophia vom Museum in eine Moschee umgewandelt und bei der religiösen Zeremonie vom Imam ein großes Schwert geschwungen, das an die Eroberung Konstantinopels durch die Muslime erinnern sollte. Gleichzeitig werden Nicht-Muslime im Land fortwährenden benachteiligt. Und nun werden gleich zwei internationale Konflikte mit national-islamischem Pathos beschworen. Das ist die endgültige Abkehr der gegenwärtigen Türkei von dem Teil der Welt, dessen Ordnung auf Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ruht.
Den Genozid aus dem Gedächtnis tilgen
Den Dialog mit Armenien hat Erdogan bereits 2009 einfrieren lassen. Historiker sind sich einig, dass die Massendeportationen und der damit verbundene Tod von - die Schätzungen gehen weit auseinander - 300.000 bis zu 1,5 Millionen Menschen einen Genozid darstellen. Doch in das Narrativ vom neuen Osmanischen Reich passt diese schreckliche Tat nicht. Sie soll am liebsten aus dem Gedächtnis des Landes getilgt werden.
In Sachen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan bleibt die türkische Öffentlichkeit jedoch gespalten: In einer Umfrage gab die Hälfte der Befragten an, dass die Türkei Aserbaidschan in diesem Konflikt unterstützen solle. In gleicher Weise ist die Türkei aber auch in der Mitte gespalten, wenn es um Präsident Erdogan geht: Nur etwas mehr als die Hälfte der Türken hat ihn und seine Politik in jüngsten Wahlen und Referenden unterstützt.
Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hong Kong.