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Politik

Die digitale Gesellschaft - demokratisch oder autoritär?

Alexander Görlach
17. September 2019

Digitale Revolution und Künstliche Intelligenz revolutionieren nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Gesellschaften. Nicht alle politischen Systeme können damit gleich gut umgehen, meint Alexander Görlach.

DW Zitattafel Alexander Görlach

Vor einem halben Jahrhundert schrieb der Zukunftsforscher Alvin Toffler in seinem Buch "The Future Shock", dass Zeiten kämen, in denen der technologische Fortschritt so rasant sein werde, dass selbst Eliten ihn nicht mehr nachvollziehen und erklären könnten. Wer möchte bestreiten, dass wir längst in einer solchen Zeit angelangt sind?

Alles, was unter den Stichworten Digitalität, Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen zusammengefasst ist, hat weltweit zu Verwerfungen geführt: Neue Industrien fordern alte heraus, gesellschaftliche Modelle und Rollenbilder werden hinterfragt. Dadurch entsteht ein Unbehagen an der Zukunft, das einhergeht mit der Frage, ob wir künftig noch so leben können, wie wir es gewohnt sind? Dieses Phänomen gilt für demokratische und nicht-demokratische Gesellschaften gleichermaßen, die Disruptionen sind in beiden gleichermaßen spürbar. Was bedeutet dieser Wandel nun für das Regieren, sei es in demokratischen oder nicht-demokratischen Gesellschaften? Favorisiert dieser Wandel gar die eine oder andere Form des Herrschens?

Politische Systeme sind Netzwerke

Nehmen wir diese beiden Beispiele: der Streit um den Bahnhofsneubau "Stuttgart 21" in der baden-württembergischen Landeshauptstadt auf der einen, und die Proteste in Hongkong auf der anderen Seite. In früherer Zeit waren Systeme streng hierarchisch. Der Staat, die Kirche, die Partei, die Gewerkschaft, das Militär - sie alle funktionierten von oben nach unten: Information floss so, Entscheidungen wurden nur so getroffen und kommuniziert. In der heutigen Zeit sind Systeme hingegen Netzwerke. Sie kennen kein oben und kein unten. Der Zusammenhalt in ihnen ist fließend und wird durch gemeinsame Ziele aller der zu diesem Netzwerk gehörenden getroffen. Es gibt, anders als in hierarchischen Systemen, keine Anführer mehr.

Der unterirdische Bahnhof "Stuttgart 21", der bisher nur als Modell existiert. 2025 soll er fertig seinBild: picture-alliance/dpa/Deutsche Bahn AG

In Stuttgart wurde bis vor ungefähr zehn Jahren nach alter Logik alles richtig gemacht: Planfeststellungsverfahren, Bürger-Anhörungen. Doch nachdem das alles abgeschlossen war und mit dem Bau begonnen werden sollte, regte sich Widerstand. Die Politik traute ihren Augen nicht: Wöchentlich kam es zu Demonstrationen. Bei einer agierte die Polizei brutal mit Wasserwerfern, bei einer anderen geriet eine Schulklasse ins Visier der Beamten. Der Umgang mit dem Bahnhofsprojekt führte bei vielen Wählern zu einem Bruch der traditionellen Parteibindung in diesem Bundesland. Die seit Jahrzehnten regierende Union wurde abgestraft, seitdem hat Baden-Württemberg einen grünen Ministerpräsidenten.

In Hongkong protestieren Menschen - bis zu zwei Millionen der sieben Millionen Einwohner - für die in ihrer Verfassung garantierten Rechte, die das kommunistische Peking unter Xi Jinping ihnen Schritt für Schritt nehmen will. Die Proteste eskalierten aus demselben Grund wie in Stuttgart: Die Hierarchie in Peking versteht nicht, wie neue nicht-hierarchische Netzwerke funktionieren. Carrie Lam wird wohl in Peking angekündigt haben, dass sie die Proteste gegen ihr Auslieferungsgesetz unter Kontrolle bekomme. Das Rezept schien ja bewährt: Einfach die Anführer der Demokratiebewegung von 2014 einsperren und dann verlaufen sich die Proteste! Genau das hat Carrie Lam kurz darauf auch gemacht - allerdings wurden die Proteste nur noch lauter und rigider: Mittlerweile demonstrieren Schüler genauso wie die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes. Mit ihrer Fehleinschätzung hat sich die Regierungschefin von Hongkong massiv geschadet, nach Wochen des Protestes aufgegeben und das umstrittene Gesetz endgültig ad acta gelegt.

Hongkongs Regierungschefin Carrie LamBild: picture-alliance/dpa/L. Hanxin

Anpassung oder Kampf gegen die Moderne

Demokratien haben in dieser Phase epochaler Veränderung das Potenzial, sich anzupassen: Wie Menschen heute an der Demokratie partizipieren, wie sie repräsentiert werden, unterscheidet sich von dem, was in der Vergangenheit möglich war. Ein Electorial College zur Wahl des Präsidenten in den USA war nötig, als noch Postkutschen fuhren und Reiter als Boten unterwegs waren. Heute hat sich dieses System überlebt. Demokratische Institutionen müssen und können sich diesem Wandel anpassen.

Für Autokratien aber sind solche Momente tödlich, denn es wächst eine Generation heran, der die alten Kräfte auf Dauer nichts entgegen zu setzen haben. Im Reich der Mitte ist man bereit, dem Kampf zwischen den neuen und den alten Hierarchien aufzunehmen. Die chinesische Führung investiert alles in die Überwachung ihrer Bürger. Befeuert wird diese Anstrengung von dem Glauben, dass man die Ideen dieser dezentralen Kräfte durch Überwachung schon im Keim ersticken könne.

Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.

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